Cover des Buches Der Hals der Giraffe (ISBN: 9783518421772)
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Rezension zu Der Hals der Giraffe von Judith Schalansky

Der blinde Fleck des Beobachters ist er selbst

von franzzi vor 9 Jahren

Kurzmeinung: Schonungslos. Bissig. Weltklug. Eine Antiheldin, deren Lebensblindheit und als Arroganz getarnte Hilflosigkeit wortgewaltig erzählt wird.

Rezension

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franzzivor 9 Jahren
Eine Lehrerin wie aus dem Gruselkabinett. Als hätte Judith Schalansky sie irgendwo verstaubt in der Ecke einer alten DDR-Plattenbau-Schule entdeckt. Längst vergessen wie die alten, gemalten Schaubilder auf Leinwand und die Einführung in die sozialistische Produktion. Einfach aus der Zeit gefallen. Von ihr überholt. Vergessen. Verstaubt. Diese Lehrerin, die irgendwie die Wende nur auf dem Papier hinter sich gebracht hat, ist die Anti-Heldin in Judith Schalanskys „Bildungsroman“.

Der heißt in echt „Der Hals der Giraffe“ und hat einiges zu bieten. Schon rein formal und optisch. Vollgestopft mit Abbildungen von Vogelflügen, Qualleninnenleben, Embryostadien, Vererbungsschemata, alles dreht sich um Biologie, klar, weil sich auch Inge Lohmarks Denken nur um Biologie dreht. Das ist ihr Fach, das der Lohmark, in einem Gymnasium, das passenderweise Darwin-Gymnasium heißt und das, haha, aussterben wird. Es hat sich nämlich die falsche Ecke von Deutschland ausgesucht, um zu den Gewinnern der Bildungsevolution zu gehören. Es liegt in der ostdeutschen Pampa, wo der Wegzug das einzig Dynamische ist, das die Region noch prägt. Keine Kinder mehr, keine Zukunft für die Schule. Ausgedarwint.

Ende des Lebensraums. Anpassung, Frau Lohmark, Anpassung oder Untergang. Dass Frau Lohmark nicht zu den Fitten gehört, die diese Anpassungsleistung an die sich verändernde Welt vollbringen, wird dem Leser binnen weniger Seiten klar. Sie erkennt nur das Versagen der anderen. Sie bleibt auf ihrem alten Standpunkt stehen, guckt von dort verkniffen in die Welt, bewirft sie mit Häme und hält das für einen Schutzmantel.

Sie kategorisiert alles in ihr Lehrwissen. Wenn die Welt um sie herum in eine Schublade passt, in ein Naturgesetz, dann hat Inge Lohmark sie auch im Griff. Die durchkategorisierten Schüler, die sie hasst (was, fast schon naturgesetzgleich auf Gegenseitigkeit beruht), die besserwisserischen Kollegen, der entfremdete Mann, die verlorene Tochter, der Wendeverlierernachbar, die verschüttete Vergangenheit. Alles passt in Schemata, allem kann man einen klugen Begriff aus der Biologie aufpfropfen. Alles sezieren, analysieren, zerlegen; dann tut es nicht weh, dann bleibt die forschende Distanz des Wissenschaftlers erhalten, dann bleibt der Selbsterhaltungstrieb der Frau Lohmark bestehen. Allein, Lohmark vergisst ein Naturgesetz: Der blinde Fleck des Beobachters ist er selbst. Sie sieht nicht, dass sie selbst längst aus allen Schubladen gefallen ist. Sie ist die letzte ihrer Art.

Sie passt nicht mehr in das Schulsystem, ihre Methoden sind seit der tiefsten DDR unverändert, ihre Anpassungsleistung gleich null. Sie benimmt sich wie die Strauße, die sich ihr Mann inzwischen als Hobby hält: Inge Lohmark verkriecht sich in ihren Kategoriekisten in dem Irrglauben, niemand könne sie sehen. Wenn nur ihre Weltsicht in Ordnung sei, könne die Welt sie nicht anders sehen. Und so lange sie die Distanz wahrt, bleibt der Schmerz wo er hingehört, nämlich weg. Bleibt alles dort, wohin sie ihre Erinnerungen, ihre Träume und Ziele von einst verbuddelt hat: weit, weit weg.

Ein kluges Buch. Witzig, steht auf dem Klappentext – bissig trifft es wohl eher. Gewaltig ist es. Schonungslos. Es dekonstruiert die Denkfehler des Alltags an einer Frau, der man keine Rettung wünschen kann, weil sie selbst niemanden retten will. Am wenigsten sich selbst.
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