🪞 Selfie ohne Selbst 🪞
Das Buch Selfie ohne Selbst von Marc Degens bietet einen Einblick in den literarischen Kreis um den Journalisten Michael Rutschky in den 1990er Jahren, der in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche, heute bekannte Berliner Autor:innen als Mentor betreut hat. Ich stelle es mir wie eine Art literarische Sozialisation vor, die Schriftsteller:innen wie Marc Degens, Katrin Passig, Gerhard Henschel, Rainald Goetz, Iris Hanika, Jochen Schimmang und David Wagner bei Michael Rutschky durchlaufen haben und die heute der "Rutschky Schule" zuzuordnen sind.
Einige von ihnen sind in Rutschkys letztem Tagebuch "Gegen Ende" Zielscheibe boshafter und verletzender Kommentare geworden.
So auch Marc Degens, der nachdem Tod des Mentors mehr als erstaunt, irritiert, verletzt und wütend über diese Kommentare war - hatte er doch all die Treffen und Gespräche mit Rutschky als angenehm und freundlich empfunden und ihn stets als wohlwollenden Mentor gesehen und das Vertrauen, was Rutschky in ihn setzte (Herr Degens, Sie werden ihren Weg gehen!) als wichtigen Grundstein seiner Schriftstellerkarriere bezeichnet.
Doch Degens Buch ist keine Abrechnung mit Rutschkys Bös- und Boshaftigkeit, sondern vielmehr eine Verarbeitung dessen. Darüber hinaus wirft es Fragen nach der Authentizität des Schreibens auf.
Kann man ehrlich Tagebuch schreiben? Ist es überhaupt möglich, aufrichtig zu schreiben? Sind Autobiographische und Autofiktionale Werke schriftstellerische Methoden des Verrats?
Da ich die sechs breitangelegten Knausgard Mein Kampf Bände gelesen habe, kann ich durchaus nachvollziehen, was hier gemeint ist. Literatur des Verrats? Wie weit darf autobiografisches Schreiben in die Privatsphäre der Nahestehenden eingreifen? Darüber muss man nachdenken. Das Buch regt an und hilft dabei!
Eine große Empfehlung an alle, die sich für Tagebücher und autofiktionale Texte interessieren!