Rezension zu Die Frau im Mond von Milena Agus
Rezension zu "Die Frau im Mond" von Milena Agus
von Die Buchprüferin
Rezension
Die Buchprüferinvor 14 Jahren
Dieses Buch ist schlicht. Die Erzählerin schildert das Leben ihrer Großmutter auf Sardinien. Wie diese als junge Frau glühende Briefe und Gedichte an irgendwelche Männer schrieb, weil sie sich von ihnen verehrt glaubte. Dabei wollte niemand etwas von ihr. Vor allem wegen besagter Briefe. Eines Tages will sie dann doch einer. Ein Witwer aus dem nächstgrößeren Ort, der der Großvater der Erzählerin werden wird. Man heiratet. Man lebt zusammen. Die Nierensteine, die die Großmutter schon länger plagen, verhindern immer wieder das Gelingen der Schwangerschaften. Schließlich geht sie in Kur. Und begegnet dort der Liebe ihres Lebens. Aber Kuren dauern nicht ewig. Wieder heimgekehrt, wird sie schwanger und bringt den Vater der Erzählerin zur Welt. Die Sprache ist unspektakulär. Weisheiten werden keine ausgeteilt. Auf blumige Metaphern wird verzichtet. Trotzdem kann man manchmal kaum glauben, was man da liest: „Die Dienerin: In einem Kleid, das ihre Brüste vollständig entblößt, ansonsten jedoch ganz züchtig ist, bringt sie ihm den Kaffee ans Bett und lässt ihn an den Brustwarzen saugen, dann klettert sie auf den Schrank, um Staub zu wischen, wobei sie keinen Schlüpfer trägt.“ Für jemanden wie mich, unvertraut mit den Gewohnheiten der Großmütter in Italien, sind das erstaunliche Neuigkeiten. Die Großmutter kommt ihren ehelichen Pflichten in abwechlungsreicher Folge nach, so wie ihr Mann, seinen früheren Bordellerfahrungen gemäß, es ihr beigebracht hat. Er empfindet Lust. Sie empfindet Lust. Aber sie liebt ihn nicht. Und so schlafen die Großeltern ansonsten wie Bruder und Schwester nebeneinander – möglichst nah am Bettrand auf ihrer jeweiligen Seite. Ihr Herz gehört der Liebe ihres Lebens, nachdem sie sich ihr ganzes Leben lang nach der Liebe, der alles andere zu Bedeutungslosigkeit verdammenden Liebe gesehnt hat: dem Kriegsheimkehrer, dem sie in der Kur begegnet. Und die Erzählerin spekuliert: Ist er womöglich der wahre Vater ihres Vaters? Um das herauszufinden, müsst Ihr das Buch selber lesen. Es handelt von einer verschrobenen Außenseiterin, erzählt vom Italien der Kriegs- und Nachkriegsjahre bis heute, ist von hintergründigem Witz, sanftem Tiefgang sowie verblüffender Direktheit und lässt in kurzen Kapiteln und skizzenhaften Szenen ein verrücktes Leben vor dem inneren Auge entstehen. Ein Leben, das doch irgendwo und irgendwann seinen Sinn findet. Aber ... damit ist noch nicht Schluss. Der Schluss ist vielmehr eine Überraschung. Und macht deutlich: Dieses Buch ist ganz schön raffiniert.