Rezension zu "China - 210 Tage hinter Gittern" von Hamza Özyol
Das Selbstverständnis von Hamza Özyol hat mich anfangs köstlich amüsiert.
Den Sohn und die Freundin lässt er ohne Bedenken in Deutschland zurück, um in China einen lukrativen Job anzunehmen. Mit nur 75 Euro in der Tasche landet er in Hongkong. Er bittet um einen Vorschuss, den er aber mit seiner EC-Karte nicht abheben kann. Auch ein Handy muss er sich ausleihen, weil seines die chinesische Prepaidkarte nicht annimmt.
Bereits am vierten Tag hat er einen Arbeitsunfall, in dessen Folge er kündigen möchte. Weitere zehn Tage hält er durch, um dann im betrunkenen Zustand drei Mobilfunktelefone zu stehlen.
Schließlich landet er im chinesischen Gefängnis.
Dort muss er mit 40 Mann in einem Raum 210 Tage ausharren. Immer wieder bittet er um einen Zellenwechsel, weil er meint, gemobbt zu werden. Tatsächlich aber hat sich der junge Deutsche gar nicht auf sein neues Arbeitsumfeld vorbereitet, ist zur Anpassung kaum fähig und hat seine Impulse nicht unter Kontrolle.
Er hält sich nicht für einen Schlägertypen, schreibt aber: „Meine Aggression war immer noch nicht abgeklungen und so nahm ich ihn noch in den Schwitzkasten und klopfte seinen Kopf mehrmals gegen die Wände des Zuges, sodass es jedes Mal hörbar krachte.“ Nach seiner Rückkehr nach Deutschland verpasst er seiner Freundin zwei Backpfeifen. „Vermutlich wäre manch anderer schon viel eher durchgedreht, gestand ich mir selber mildernde Umstände zu“, kommentiert er dieses Verhalten.
Auf dem Cover des Buches ist ein Gitter zu sehen. Davor eine Faust.
Bei einer Zwischenstation auf dem Rückflug benutzt er das Facebookkonto einer fremden Frau, um auf das Profil seiner Freundin zu gelangen. Er scheut sich auch nicht, die Nachrichten auf dem Handy seiner Partnerin zu lesen und sie daraufhin zur Rede zu stellen. Ja, der junge Mann geht sogar so weit, die Kolleginnen seiner Freundin nach ihrem Lebenswandel während seiner Abwesenheit zu befragen.
Deutlich verwechselt er Partnerschaft mit Besitz.
Dass das bei seiner Freundin nicht auf Gegenliebe stößt, ist verständlich. Sie reagiert mit einem Wechselspiel aus Flucht und Wiederannäherung. Dabei ist sie ebenso nachtragend wie Özyol, bezeichnet ihn als Fremdgänger, Ex-Knasti und Schläger.
Die Beziehung soll mit einem gemeinsamen Urlaub in der Türkei enden, den der junge Mann aber nur mit ihr verbringen möchte, weil sein Sohn als Reisebegleitung weggefallen ist.
Er ist der Sohn türkischer Einwanderer, moslimisch erzogen worden. „Als ich fünfzehn Jahre alt war, betete ich nur noch zur Ramadan-Zeit und gelegentlich zu den Freitagsgebeten, wenn es zeitlich passte.“
Mit anderen Worten wurde er zum Lippenbekenner wie die meisten Menschen der Gegenwart. Im Gefängnis beginnt er wieder zu beten. Auch auf Schweinefleisch verzichtet er, wo es ihm möglich ist. Sein übriges Verhalten hinterfragt er zwar in der Gefangenschaft, setzt seine Erkenntnisse aber nach der Entlassung nicht um.
Mein Amüsement ist gewichen, weil ich nun meine zu sehen, woran der Autor gescheitert ist und vermutlich weiter scheitern wird. Aus dem Rahmen der türkisch-muslimischen Traditionen ist er herausgefallen. Sein Männer- und Frauenbild sind nicht identisch mit dem deutschen. Zusätzlich ist er viel stärker auf dem Arbeitsmarkt gefordert, als das noch seine Eltern waren.
Dann wird er in China mit einer Diktatur konfrontiert, die dem Einzelnen noch weniger Spielraum lässt.
Zuletzt erscheint bei Facebook ein Marokkaner, der seine Freundin ehelichen möchte.
Die Technik hat die Welt zusammenrücken lassen. Globalisierung nennt man das. Aber wie soll ein Mensch in dieser unendlich weiten Welt noch eine Identität entwickeln können?
Mein Titel für das biografische Werk wäre: „Die Welt - lebenslang hinter Gittern.“
Ich danke Hamza Özyol vielmals für seine Offenbarungen und wünsche ihm aus tiefsten Herzen ein zufriedenes Leben.
Vera Seidl