Rezension zu "Mary I" von John Edwards
Von allen Herrscherhäusern, die seit dem 11. Jahrhundert den englischen und britischen Thron innehatten, sind die Tudors am bekanntesten. Seit Jahrzehnten liefern sie Stoff für Biographien und historische Romane, Spielfilme und TV-Serien. Das Interesse der Historiker, Schriftsteller und Filmproduzenten verteilt sich allerdings ungleich auf die fünf Könige und Königinnen aus dem Hause Tudor. Heinrich VII. (1457-1509), der Begründer der Dynastie, Eduard VI. (1537-1553) und Maria I. (1516-1558) stehen seit jeher im Schatten Heinrichs VIII. (1491-1547) und Elisabeths I. (1533-1603). Obgleich Eduard VI. und Maria I. jeweils nur für wenige Jahre herrschten, ist es nicht gerechtfertigt, diese beiden Monarchen zu ignorieren. Die Jahre zwischen Eduards Thronbesteigung (1547) und Marias Tod (1558) waren eine dramatische Phase der englischen Geschichte. Die von Protestanten dominierte Regierung nutzte die Minderjährigkeit des Kindkönigs Eduard aus, um die Reformation, die unter Heinrich VIII. begonnen hatte, fortzusetzen und zuzuspitzen. Eduards Halbschwester Maria hingegen verschrieb sich dem Ziel, England in den Schoß der Katholischen Kirche zurückzuführen. In Deutschland ist Maria I. als "die Katholische" bekannt. Marias englischer Beiname, "die Blutige" (Bloody Mary), klingt ungleich düsterer und bedrohlicher. Er erinnert daran, dass während Marias Herrschaft rund 300 Protestanten auf dem Scheiterhaufen starben. Bis in die jüngere Vergangenheit galt Maria als grausame religiöse Fanatikerin. Mit dem Regierungsantritt ihrer Halbschwester Elisabeth erlangten die Protestanten wieder Oberwasser, zunächst in der Politik und bald auch in der Geschichtsschreibung. Protestantische Autoren, seien es Geistliche, seien es Historiker, kannten keine Gnade mit Maria, der ersten Königin auf Englands Thron. Sie betrachteten Marias Kinderlosigkeit und frühen Tod als göttliche Strafe für die Verfolgung der Protestanten, und sie taten ihre fünfjährige Herrschaft als zwar blutige, aber letztlich unbedeutende Episode ab, die den Siegeszug des Protestantismus nicht habe aufhalten können. In England setzte sich ein Geschichtsbild durch, wonach die Reformation "historisch vorherbestimmt" gewesen sei. In diesem Geschichtsbild spielte Maria I. die Rolle einer Tyrannin und Frevlerin, die ihr Land von seinem "historisch vorherbestimmten" Weg habe abbringen wollen. Zahllose Generationen wackerer englischer Protestanten erfüllte es mit Genugtuung und Schadenfreude, dass die Königin mit ihrem Versuch gescheitert war, England zu rekatholisieren.
In den letzten Jahrzehnten hat sich das Bild vom Verlauf der englischen Reformation verändert. Heute wird die Reformation in England nicht mehr als geradliniger und bruchloser Prozess verstanden, der gleichsam zwangsläufig und unausweichlich in den Sieg des Protestantismus mündete. Bis weit in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts hinein zeigte der Katholizismus großes Beharrungsvermögen. Das Vorhaben Marias I., die Reformation rückgängig zu machen, war nicht von vornherein aussichtslos. Die Revision des traditionellen Bildes vom Verlauf der englischen Reformation musste früher oder später zu einer verstärkten Beschäftigung mit Maria selbst führen. Der Nachholbedarf war groß. Zwischen 2007 und 2011 sind nicht weniger als vier neue Biographien der Königin erschienen. Wer sich heute über Leben und Herrschaft Marias I. informieren möchte, der kann wählen zwischen den Büchern von Linda Porter (2007), Anna Whitelock (2009), David Loades (2011) und John Edwards (2011). Alle vier Autoren sind bestrebt, Marias Leben und Regierung nicht vom Ende her zu deuten. Als die siebenunddreißigjährige Maria 1553 den Thron bestieg, war nicht abzusehen, dass sie nur fünf Jahre später sterben würde. Genauso wenig war abzusehen, dass ihre Ehe mit Philipp von Spanien kinderlos bleiben würde. Obwohl Maria zum Zeitpunkt der Heirat bereits 38 war, hätte sie theoretisch noch Kinder bekommen können. Wie wäre die englische Geschichte verlaufen, wenn die Krone 1558 an einen Sohn oder eine Tochter Marias gegangen wäre, nicht an Marias Halbschwester Elisabeth, die mit den Protestanten sympathisierte? Ein Vergleich der vier Biographien ist reizvoll und lohnend. Welches Bild zeichnen die Autoren von Marias Persönlichkeit und Charakter? Wie bewerten sie die Religionspolitik der Königin? Wie bewährte sich Maria aus Sicht der Autoren als erste regierende Königin der englischen Geschichte? Beim Vergleich der vier Bücher ist zu bedenken, dass die Autoren verschiedene Leserkreise erreichen wollen. Porter und Whitelock haben ihre Biographien für historisch interessierte Laien geschrieben. Edwards' Buch ist in der renommierten Reihe "Yale English Monarchs" erschienen, deren Bände eher für den wissenschaftlichen Gebrauch bestimmt sind. Bei Loades ist nicht ganz klar, für welchen Leserkreis das Buch geschrieben wurde.
John Edwards ist eigentlich ein Experte für die Geschichte Spaniens im 15. und 16. Jahrhundert. Bekannt sind seine Forschungen und Publikationen über die Inquisition und über die Katholischen Könige, Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon, die Großeltern Marias I. Edwards' beruflicher Hintergrund ist der Maria-Biographie deutlich anzumerken. Edwards konnte spanisches Quellenmaterial nutzen, das den anderen Autoren nicht zugänglich war. Ausführlicher als Porter, Whitelock und Loades behandelt Edwards Marias Ehe mit Philipp von Spanien und die Einbeziehung Englands in die spanisch-habsburgische Großmachtpolitik Mitte des 16. Jahrhunderts. Er arbeitet heraus, dass Philipp und die spanischen Geistlichen, die 1554 mit ihm nach England kamen, einen sehr viel größeren Einfluss auf die Regierungsgeschäfte nahmen als traditionell angenommen. Das detailreiche Bild von Marias und Philipps politischer Zusammenarbeit ist ein wesentlicher Vorzug von Edwards' Buch gegenüber den drei anderen Biographien. Die spanischen Geistlichen, darunter Bartolomé Carranza, der spätere Erzbischof von Toledo, wirkten aktiv an der Rekatholisierung mit, und Philipp setzte alles daran, Englands Ressourcen für die habsburgische Großmachtpolitik auf dem Kontinent nutzbar zu machen. Was die rein faktische Seite von Marias Leben und Herrschaft betrifft, so geht Edwards nicht über das hinaus, was man bei Porter, Whitelock und Loades lesen kann. Dem wissenschaftlichen Charakter seines Buches entsprechend befasst er sich jedoch eingehend mit etlichen Aspekten, die in den populärwissenschaftlich angelegten Biographien von Porter und Whitelock zu kurz kommen, weil sie für ein Laienpublikum zu speziell sind. Als einziger der vier Autoren versucht Edwards, Marias persönlichen Glauben näher zu charakterisieren und in der vom Humanismus geprägten katholischen Spiritualität des Renaissance-Zeitalters zu verorten. Edwards behandelt Marias Religionspolitik und die komplexen diplomatischen Beziehungen zwischen England, den Habsburgern und der Kurie ausführlicher und tiefgründiger als die anderen Autoren. Für die Verwendung in der wissenschaftlichen Arbeit kommt seine Biographie am ehesten in Frage. Edwards hat alle verfügbaren Quellen und die vorhandene Forschungsliteratur umfassend ausgewertet. Die Biographie kann daher als Referenzwerk gelten. Der Wert des Buches wird allerdings durch einige Mängel geschmälert: Es fehlen Ausführungen zur Forschungsgeschichte, zum heutigen Forschungsstand und zur Quellenlage, wie man sie am Anfang einer wissenschaftlichen Biographie eigentlich erwartet. Edwards steht seiner Protagonistin auffallend unkritisch gegenüber. Die Feststellung, Maria habe ihre Rolle als Königin ernst genommen und ihre monarchischen Befugnisse in vollem Umfang genutzt, ist sicher berechtigt. Es hätte indes nicht geschadet, wenn Edwards die Prioritäten und Entscheidungen der Königin hinterfragt hätte. Marias Religionspolitik einschließlich der Protestantenverfolgung und das Bündnis mit den Habsburgern erscheinen in seiner Darstellung alternativlos. Gab es wirklich keine anderen Optionen? Wie stand es um die Erfolgsaussichten der Rekatholisierung? Welchen konkreten Nutzen zog England aus der Allianz mit dem Kaiser und seinem Sohn Philipp? Wenn Marias politisches und religiöses Werk keine tiefen Wurzeln schlagen und von Königin Elisabeth mühelos "abgewickelt" werden konnte, dann lag das nicht allein an der kurzen Regierungszeit der Königin, sondern in erster Linie daran, dass Maria in den fünf Jahren ihrer Herrschaft einen Großteil des anfangs vorhandenen Rückhalts im Volk verloren hatte. Und dafür gab es handfeste Gründe - über die Edwards aber nichts sagt.
Trotz unbestreitbarer Stärken wird Edwards' Buch den Ansprüchen, die man als Leser an eine wissenschaftliche Biographie stellen darf, nicht vollauf gerecht.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Januar 2017 bei Amazon gepostet)