Cover des Buches #fingerweg (ISBN: 9783551315434)
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Rezension zu #fingerweg von Susanne Fülscher

Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz - Ein ernstes Thema mit verschwommenen Grenzen

von EmmyL vor 7 Jahren

Kurzmeinung: Ernstes Thema, tolles Buch, nachvollziehbare Innenansichten - das Ende leider verschenkt - Selbstjustiz und public blaming ist keine Lösung

Rezension

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EmmyLvor 7 Jahren

Direkt nach dem Abitur beginnt das Leben. Zielstrebig hat sich Lisa beworben und einen sehr guten Praktikumsplatz bei dem erfolgreichen Filmproduzenten Maxime Léon ergattert. Sie möchte unbedingt an der Filmhochschule studieren, ist sich aber noch nicht sicher in welchem Spezialgebiet. Zur Orientierung soll ihr das Praktikum helfen. Der glamouröse Chef vermittelt viel Wissen, führt Lisa in die aufregende Filmwelt ein, spornt sie zu Leistung an, überträgt Kompetenzen. Leider überschreitet er zunehmend die Grenzen professioneller Distanz bis Lisa ihr Schweigen bricht und sich wehrt.

Die gewählte konventionelle Erzählweise passt perfekt zum Thema. Lisa erzählt die Ereignisse rückblickend, chronologisch in der Ich-Form. Als Leser erhält man durch die Einbindung des Alltags schnell Zugang zur Protagonistin. Sie könnte auch das nette Mädchen aus der Nachbarschaft sein. Gefühle, Erlebnisse, Handlungen, Gedanken sind lebensecht und nachvollziehbar beschrieben. Man freut sich mit Lisa über die Zusage zum Praktikum, die Einladung zur Filmprämiere oder das bestandene Abitur. Wer dies schon erlebt hat kann die kribbelnde Freude nachvollziehen. Auch das spätere Gefühlschaos mit Selbstvorwürfen, Scham, Ekel, Wut ist treffend visualisiert.

Eine unerfahrene, leicht zu beeinflussende, unsichere, junge Frau am Anfang ihrer Karriere trifft auf einen charmanten, charismatischen, gutaussehenden, großzügigen Chef. Als Praktikantin ist Lisa von einer guten Empfehlung des Chefs abhängig. Aber wann fängt sexuelle Belästigung an? Kleine Ereignisse werden als Spaß unter Kollegen, väterliche Besorgnis oder unkontrolliertem Alkoholgenuss abgetan. Der Kosename, über den Arm streichen, die Hand auf die Hüfte legen, eine Umarmung, anzügliche Komplimente, chauvinistische Witze, den Nacken massieren, die Brust streicheln, ein überraschender Kuss – die Grenzen sind fließend. Wann ist es wirklich zu viel? Wann kann sich das Opfer mit einfachen Entschuldigungen nichts mehr vormachen? Wenn man sich vorher so viel gefallen lassen hat, ist man dann noch glaubwürdig? Jeder hat seine eigenen Grenzen. Es ist wichtig diese zu kennen und klar festzulegen. Leider sind besonders junge BerufseinsteigerInnen zu unerfahren und unsicher. Aus diesem Grund finde ich ein Jugendbuch für Mädchen zum Thema sexuelle Belästigung ich unglaublich wichtig.

Sehr schön wird die schleichende Anmache, versteckt hinter väterlicher Sorge oder kumpelhafter Freundlichkeit, beschrieben. Erst verharmlost das Opfer die Übergriffe, später sucht es die Schuld bei sich. Fakt ist, wenn der Täter nicht aufgehalten wird, sucht er sich ein neues Opfer. Genau das wird im Roman nachvollziehbar beschrieben. Bis zu diesem Punkt ist es ein ganz tolles Buch für jugendliches Publikum.

Danach muss ich leider Minuspunkte vergeben. Der Schuss ist verschenkt, zu reißerisch und sendet falsche Signale. Aus pädagogischer Sicht kann ich Selbstjustiz und öffentliche Demütigung nicht akzeptieren. In einem rechtsstaatlichem System, ist es Sache von Polizei und Justiz ein Urteil zu fällen. Für den Einsatz im Unterricht ist das Buch daher nicht geeignet.

Mir liegt das Thema sehr am Herzen. In den 12. Klassen biete ich dazu jedes Jahr einen Workshop an. Unter kritischer Betrachtung des großen Finales im Buch, habe ich das Werk mit Mädchen der 12. Klasse gelesen und als Basis für sehr umfangreiche, tiefgründige Diskussionen genommen. Bei pädagogischer Nutzung sollte das Ende unbedingt nach den Prinzipien des Rechtsstaats beleuchtet werden.

Leider stößt unser Justizsystem gerade bei sexueller Belästigung auf eine Grauzone mit undefinierten Grenzen. Nicht selten werden Täter lediglich verwarnt, während ihre Opfer noch Jahre später den Psychiater besuchen.

Für Mädchen ab 16 ein empfehlenswertes Buch. Der Altersfreigabe des Verlages ab 12 kann ich mich nicht anschließen.

Fazit: Das Ende ist zwar pädagogisch nicht wertvoll aber - Sorry – ich kann den Aufruf zur Selbstjustiz nicht nur verstehen sondern sogar nachvollziehen.

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