Cover des Buches Stella (ISBN: 9783446259935)
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Rezension zu Stella von Takis Würger

Die Suche nach Wahrheit und die Frage nach Schuld

von -Leselust- vor 5 Jahren

Kurzmeinung: Sehr interessantes Buch.

Rezension

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-Leselust-vor 5 Jahren
Meine Meinung zum neuen Roman Stella


Die drei Erzählebenen

Die Geschichte um Stella und Friedrich wird auf drei Erzählebenen geschildert.
Zum einen gibt es am Anfang jedes Kapitels, die die 12 Monate im Jahr 1942 darstellen, eine Einordnung des Zeitgeschehens durch eine kurze historische Einordnung mit Fakten des jeweiligen Monats (Januar 1942 - Dezember 1942). Zum Beispiel über die Lebensumstände in Berlin, das Geschehen im Krieg, die immer neuen Gesetze gegen Juden. Aber auch zB den Geburts- oder Sterbemonat von bekannten Persönlichkeiten wie zB Herrn Bosch oder Paul McCartney, die Verleihung der Oscars oder der Goldenen Schallplatte, Ergebnisse von Sportereignissen, Eröffnungen von Theaterstücken.
Dann gibt es natürlich die Schilderungen der Ereignisse aus der Sicht von Friedrich, einem fiktiven Charakter. Er ist Schweizer und nach Berlin gekommen, um die Wahrheit über die Judendeportationen herauszufinden. Dieses Anliegen gerät aber schnell in Vergessenheit, als er die attraktive Kristin kennenlernt. Im noblen Hotel Adlon genießen die beiden ein Leben im Luxus, finanziert durch Friedrichs Vater, während der Rest der Berliner Bevölkerung unter den immer strengeren Lebensmittelrationalisierungen zu leiden hat.
Als dritter Erzählsprung gibt es in dem Roman noch wahre Zeugenaussagen über die Handlungen Stella Goldschlags. Auszüge aus echten Gerichtsakten eines sowjetischen Militärtribunals.


Der Schreibstil

Den Schreibstil in diesem Roman fand ich sehr interessant. Es gab viele kurze Sätze, die sich fast stakkatoartig aneinanderreihen. Da liest man vielleicht ein bisschen Würgers Arbeit als Journalist für den Spiegel heraus. Manche Absätze lesen sich vom Stil und Tempo der Sätze eher wie eine Reportage. Es ist wenig Raum für lange Betrachtungen des Innenlebens der Personen. Das führt zu einem eher nüchternen Erzählstil, der eher beschreibend ist, als bewertend. Das Urteil bleibt dem Leser/ der Leserin selbst überlassen. So gibt es im ganzen Roman keinen einzigen klar "Guten" , aber auch keine klaren, stereotypen "bösen Nazis", sondern einzelne, komplexe Figuren. Der Leser/ die Leserin muss selbst entscheiden, und diese Entscheidung wird einem nicht leicht gemacht. Das ist wirklich das Gute an diesem nüchternen Schreibstil und wichtig, bei einem moralisch so schwierigen und komplexen Thema. Andererseits hat dieser Schreibstil aber auch dazu geführt, dass ich selbst sehr wenig Anteil an der Geschichte nahm, mich nicht involviert gefühlt habe, weil ich so eine große Distanz zu allem hatte. Der Erzählstil war so distanziert, dass ich wenig Verbindung zu den Charakteren aufgebaut habe.
In einer großen Marketingkampagne stellt der Hanser Verlag die Frage: "Hätten Sie zu Stella gehalten?" Diese Frage hat sich mir beim Lesen allerdings gar nicht gestellt. Durch die große Distanz habe ich das Geschehen als Beobachterin zwar gespannt verfolgt, aber es hat mich nie auf einer persönlichen Ebene berührt. Und ich denke, es ist eh unmöglich, so eine Aussage zu treffen. Diese Zeit war eine absolute Ausnahmesituation und niemand von uns kann sagen, wie man selbst gehandelt hätte. Ich hoffe, ich hätte gute, mutige Entscheidungen getroffen. Aber wissen kann ich es nicht. Diese Ambivalenz ist in dem Roman finde ich sehr gut eingefangen und spiegelt sich an verschiedenen Stellen wieder. Würger verzichtet vollkommen auf eine schwarz-weiß Darstellung, was dem Thema auch nicht hätte gerecht werden können.


Die Ambivalenzen

So gibt es zum Beispiel die Nebeneinanderstellung von zwei Lebensrealitäten in Berlin der 42er: dem Schrecken des Krieges, Bombenangriffe, Lebensmittelrationierungen und dem weitaus schlimmeren Leid, dass die NS Zeit für alle als nicht arisch geltenden Menschen ausgelöst hat, und einem unbeschwerten, luxuriösen Leben voller Leckereien und geheimer Feste. Wie –für eine privilegierte Schicht, keine Frage– das Leben normal weitergeht und man in Konzerte und zu Opern geht, während andere um ihr Leben fürchten. Dieses Nebeneinander der Extreme findet sich auch in den Schilderungen historischer Ereignisse am Anfang der Kapitel.

Eine weitere Ambivalenz stellt die Person Stella dar. Einerseits ist sie die eiskalte Greifern, die auch nach der Deportation ihrer Eltern, also nach dem Ende ihrer Erpressbarkeit, weiter für die Gestapo arbeitet und Juden denunziert. Dieser Aspekt ihrer Persönlichkeit kommt vor allem in den Ausschnitten der Gerichtsakten zum Vorschein. Auf der anderen Seite ist sie aber auch die schöne, leidenschaftliche Frau Kristin, in die Friedrich sich so unsterblich verliebt hat.
Einen anderen interessanten Aspekt an der Figur Stella fand ich, dass sie zwar als Kind jüdischer Eltern geboren wurde, sie sich selbst aber nicht als Jüdin gesehen hat, nicht dem jüdischen Glauben angehangen hat. Sie ging nicht in die Synagoge und las nicht die Thora. Erst Hitlers Definition hat sie zur Jüdin gemacht.


"Sie schütze ihre Familie. Konnte das falsch sein?" (Aus Stella, S. 135)


Die Figur Friedrich

Die Darstellung der Stella fand ich ganz gelungen und auch, dass diese Ambivalenz nicht aufgelöst wurde, hat mich nicht gestört. Wesentlich größere Probleme hatte ich mit der Figur des Friedrich. Seine grenzenlose Naivität hat mich manchmal zur Weißglut getrieben. Und schlimmer: irgendwann habe ich sie der Figur einfach nicht mehr abgekauft. Er verschließt willentlich die Augen vor dem, was seine Freundin tut, wenn sie nicht bei ihm ist. Angeblich ist er blind vor Liebe, doch eigentlich kennt er Stella doch gar nicht. Wie sehr kann er sie als Person schon lieben, wo er so wenig über sie weiß.
Am Anfang geht es ihm –zumindest angeblich– um die Wahrheit. Er reiste gegen den Willen seiner Eltern nach Berlin, um die Wahrheit herauszufinden über die Gerüchte über Judentransporte. Er will eigentlich die Wahrheit suchen, Zeuge sein. Doch dann verschließt er die Augen vor den Zuständen in Berlin, versteckt sich in seinem Hotel mit seinem sicheren Status als Schweizer. Und verschließt auch die Augen vor Stellas Wahrheit. Und wenn er nicht zur Wahrheitssuche nach Berlin kam, warum dann? Für mich wurde Friedrich zu einem Voyeur, der aus seinem sicheren Hotelzimmer aus das Elend und Leid der anderen betrachten konnte. Und damit war diese Figur für mich endgültig unten durch.


"Ich glaube, die Wahrheit ist nirgendwo so sehr in Gefahr, wie im Krieg." (Aus Stella, S. 32)


Friedrichs Kindheit

Schade fand ich auch, dass es einige lose Enden in der Geschichte gab. Die Einblicke in Friedrichs Kindheit ganz zum Anfang des Romans fand ich zum Beispiel äußerst gelungen und in einer wunderschönen Sprache formuliert. Ich habe mir viele schöne Zitate rausgeschrieben.
Fritz hat eine sehr distanzierte Mutter, die wenig zu Liebe und Zuneigung fähig. Sie ist weder physisch noch psychisch zu Nähe fähig. Das macht Friedrich in meinen Augen auch so anfällig für Stella und ihre Liebe. Seine Mutter trinkt, zieht sich zurück. Der Vater ist viel auf Reisen und so ist der jungen Fritz meist sich selbst überlassen.


"Vielleicht ertrug ich die Einsamkeit, weil ich nicht vermissen konnte, was ich nicht kannte." (Aus Stella, S. 17)


Sehr früh in seiner Kindheit hat er ein einschneidendes Erlebnis. Er bewirft einen vorüberfahrenden Kutscher mit einem Schneeball. Mit der Tat konfrontiert, sagt er sofort die Wahrheit, weil er nichts anderes kennt.


"Vater hatte mir gesagt, die Wahrheit sei ein Zeichen von Liebe. Die Wahrheit sei ein Geschenk. Damals was ich mir sicher, dass das stimmte." (Aus Stella, S. 13)


Der Kutscher schlägt ihn daraufhin und verletzt ihn schwer im Gesicht. Zurück bleiben eine Narbe und der Verlust des Farbensehens. Das Fritz keine Farben mehr sehen kann, spielt in seiner Kindheit eine recht große Rolle und ich war gespannt, wie sich dieser Handlungsstrang weiterentwickelt. Doch er wird im Verlauf gar nicht wieder aufgenommen, was ich sehr schade fand.


Fazit:
Ich hätte "Stella" von Takis Würger gern noch mehr gemocht. Die Sprache fand ich großartig und in dem historischen Thema hätte so viel Potenzial gesteckt. Doch leider waren mir sowohl die Figuren, als auch die ganze Handlung zu distanziert. So blieb ich Beobachterin der an mir vorbeirauschenden Ereignisse (Und ein Rausch war es. Ich habe dieses Buch an zwei Tagen verschlungen) und die Handlung hat mich nicht berühren können.
Sehr gut gefallen hat mir aber, dass Würger einem so viele Ambivalenzen präsentiert und einen zwingt, sie auszuhalten. Wir werden nicht durch emotionale Aspekte zu einem Urteil geleitet, sondern können uns dank des nüchternen, eher berichtenden Schreibstils selbst eine Meinung bilden. Bei diesem Thema unglaublich wichtig, finde ich. Ich habe das Buch trotz aller Kritikpunkte gern gelesen, weil es mich mal wieder dazu gebracht hat, mich mit unserer Geschichte auseinanderzusetzen und mir auch schwierige Fragen zu stellen.
Ich denke, Stella eignet sich sehr gut als Buch für einen Lesekreis, denn es gibt unglaublich viel zu diskutieren und Stoff zum Nachdenken.
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