Cover des Buches Clan-Land (ISBN: 9783710901119)
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Rezension zu Clan-Land von Burkhard Benecken

Charaktere, die man nicht so schnell vergisst

von BarbaraDrucker vor 3 Jahren

Kurzmeinung: Erschütternde und beklemmend realistische Zukunftsvision mit großartigen Charakteren.

Rezension

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BarbaraDruckervor 3 Jahren

Wie sieht es 2044 in Deutschland aus? Die Zero-Tolerance-Partei (ZTP) hat das Land fest im Griff, die meisten Immobilien gehören den Chinesen. Und auf den ersten Blick scheint ausgerechnet in diesem System lang Überfälliges in den Griff bekommen zu sein: Klimaschutz wird großgeschrieben, das Tierschützerklientel ist durch staatlich verbotenen Fleischkonsum zufriedengestellt, und sogar die Mitbestimmungssehnsüchte sind befriedigt. Nicht einmal Totalitarismus herrscht, die Gewaltentrennung funktioniert, und die Macht geht immer noch vom Volk aus. Scheinbar. Denn was nach außen hin so perfekt scheint und lediglich durch das rechte Eck, in dem die ZTP steht, fragwürdig ist, entpuppt sich mit jeder Seite als blanker Horror.

Es wäre ein Leichtes gewesen, alleine mit den Rechten und der chinesischen Wirtschaftsmacht unsere aktuellen Ängste zu bedienen, doch der Autor geht einen wesentlichen Schritt weiter: Er führt uns vor, wie gerade unsere positiven Werte, unser derzeitiger Lebensstil und unsere eigene Manipulierbarkeit in das Schreckensszenario führen. Die Gerichtsbarkeit liegt in der Hand des Volkes und verkommt zur reinen Show, Spitzenanwälte agieren nach den Gesetzen von Castingshows und schielen auf Quote statt auf Gerechtigkeit. Und das Volk feiert die charismatischen Anwälte, spricht Gewaltverbrecher jubelnd frei und lässt sich durch attraktive Starjuristen mit brillanter Rhetorik blenden. Schon diese scharfsichtige Gesellschafts- und Medienkritik wäre mir die fünf Sterne wert gewesen, doch richtig begeistert bin ich von der Figurenzeichnung.

Sowohl Lorenz van Bergen als auch der visionäre libanesische Clan-Chef Abdelkarim Al-Zahidi sind ambivalent und kritisch angelegt. Keine Schwarz-Weiß-Malerei, der Anwalt ist Profiteur des Systems, der Clan-Chef ein Verbrecher. Ohne jede Verklärung und Mafia- oder Rockstar-Romantik, sondern schonungslos ehrlich, und gerade in diesem Realismus sind mir beide unglaublich sympathisch. Die beiden Männer werden zu Freunden, die Freundschaft wird durch Intrigen und Krisen bedroht, und beide enthüllen ihren wahren Charakter. Mit jedem Mal Umblättern bangte ich 'bitte nicht!'. Stilistisch ist der Roman kein Pageturner, aber kalt ließ er mich nie.

Mein unangefochtener Liebling in einem Kosmos bis zu den Nebenfiguren prägnant gezeichneter Charaktere ist Al-Zahidi. Manches war mir zu knapp erzählt, vor allem von ihm konnte ich nicht genug bekommen und hätte mir noch viel, viel mehr über die Freundschaft der beiden gewünscht. Dennoch entstehen keine Lücken im Plot. Es ist nicht wichtig zu wissen, wie Al-Zahidi zum Verbrecher wurde, das Warum reicht. Ebenso ist van Bergens Wandlung absolut plausibel, die Geschichte rund und glaubwürdig erzählt. Vieles in diesem Buch muss man nicht auf dem Silbertablett serviert bekommen, sondern kann es sich durch Einfühlen in die Figuren erklären.

Vorsicht, Spoiler! Ich kann diesem Buch unmöglich gerecht werden, ohne auf van Bergens Entwicklung, einige überraschende Wendungen und das Ende einzugehen.

Die Freundschaft der beiden war für mich nämlich das Highlight des Buches, und ich hätte ihnen so sehr gewünscht, sie vertiefen zu können. Dass Al-Zahidi zur schockierenden Hinrichtung eines schwulen Teenagers Stellung nehmen kann. Billigt er sie oder nehmen bei der Verurteilung die intriganten Kräfte bereits Überhand? Die muslimische Clan-Stadt wird einerseits als Utopia gezeichnet, von van Bergen nostalgisch verklärt, andererseits herrscht neben einer humanen und auf Versöhnung ausgerichteten Rechtspraxis auch hier ein erschreckend patriarchalisches Gesetz, manifestiert durch denselben reaktionären Friedensrichter. Sämtliche Indizien sprechen gegen Al-Zahidi, van Bergen zweifelt, doch er wird nicht zum Verräter. Er sucht die Aussprache, und gerade diese Aussprache führt in den Untergang. Als Leser erfahren wir weder Al-Zahidis Stellung zu diesem Mord noch das Motiv für den unfassbaren Verrat des wahren Täters. Wir erfahren nie, warum die Clan-Chefs mit niederträchtigen ZTP-Funktionären gemeinsame Sache machen, obwohl sie von eben jenen verfolgt und diskriminiert wurden.

Diese Leere, diese offenen Fragen sind unangenehm, sie regen aber auch zum Weiterdenken an. Bis zum Schluss hoffte ich auf den Sieg von Ehre und Anstand, es ist ein Buch im Stil einer Charaktertragödie. Die Helden und ihre Vision scheitern, doch dieses Scheitern ist mit einer tiefen und wichtigen Erkenntnis verbunden. Ich hoffe, dass der Autor nicht der Versuchung erliegt, eine Fortsetzung zu schreiben, denn ohne Al-Zahidi wäre sie für mich banal. Es muss nicht jede Geschichte gut enden, und gerade diese Erschütterung, dieses Bedauern über verlorene Möglichkeiten macht diesen Roman für mich unglaublich nachhallend und stark.

Von mir eine uneingeschränkte Leseempfehlung.

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