Cover des Buches Oliver Twist (ISBN: 9783596900428)
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Rezension zu Oliver Twist von Dirk Walbrecker

Ein Waisenjunge, der sich in die Herzen der Leser schleicht

von Betsy vor 6 Jahren

Rezension

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Betsyvor 6 Jahren
Oliver Twist erzählt die Geschichte eines Jungen, der in einem Arbeitshaus zur Welt kommt und dessen Mutter gleich nach seiner Geburt stirbt. Oliver landet im Waisenhaus in dem bitteres Elend herrscht und flüchtet letztendlich nach einigen weiteren leidvollen Erfahrungen nach London. Dort gerät er in die schlechte Gesellschaft einer Diebesbande, die ihn zu einem der ihren machen will. Doch Oliver hat Glück und landet bei dem gutherzigen Mr. Brownlow der sich um ihn kümmert, doch nur allzu bald trennen sich ihre Wege wieder und Oliver muss erneut lernen wie böse die Welt sein kann, doch immer wieder gibt es einen Hoffnungsstrahl für Oliver und bald wird klar, dass sich um seine Herkunft wohl ein Geheimnis rankt, dass so mancher am liebsten auslöschen möchte. Dank seiner Freunde, die an seinem Schicksal Anteil nehmen, scheint sich für Oliver doch noch alles zum Guten zu wenden.

Die Geschichte des Waisenjungen Oliver Twist rührt auch heute noch die Menschen und besticht vor allem durch Dickens Darstellung der damaligen Missstände, die sehr anschaulich aufzeigt wie Menschen ihre Macht missbrauchen und an den ärmsten und hilflosesten Geschöpfen auslassen. Diese teils zynischen Spitzen lockern hier dann auch das Buch um einiges auf und sorgen für ungläubiges Kopfschütteln, aber auch für ein paar sehr unterhaltsame Momente, wenn die Ironie wieder einmal voll durchkommt.

Anders als erwartet kann der Handlungsverlauf einem als Leser durchaus überraschen und fängt zwar recht traurig mit Olivers Start ins Leben und seinem Heranwachsen im Waisenhaus an, entwickelt sich aber mehr und mehr zu einem regelrechten Krimi mit Hang zum Melodramatischen und einem abschließendem recht rosaroten Ende in dem so gut wie jeder bekommt was er verdient und der glückliche Zufall in sehr großem Ausmaß seine Hand im Spiel hat, was man aber dem kleinen Oliver mit seinem reinen Herzen durchaus gönnt.

Der Schluss ist dann eine recht geballte Ladung an Informationen zur Auflösung und als Leser muss man sich dann auch ein wenig Zeit nehmen um dies alles sacken zu lassen. Auf den ersten Blick erscheint dann alles auch sehr schlüssig aufgelöst, wer allerdings noch ein wenig nachhakt merkt schnell, dass es durchaus ein paar Dinge gibt, die nicht so ganz stimmig sind.
Zwischendurch gab es dann auch ein paar in die Länge gezogene Szenen und teilweise trieb es auch ein wenig dahin. Da diese Geschichte eigentlich als Fortsetzungsroman in einer Zeitung erschien, dürften einige dieser Dinge wohl auch darauf zurückzuführen sein. Ich persönlich hatte dann zumindest teilweise auch ein kleines Problem mit den Figuren und ihrer Beschreibung, da oftmals das Alter unerwähnt bleibt und man sich so ein eigenes Bild macht, welches dann im weiteren Verlauf aber nicht immer zu passen scheint, weil derjenige sich als älter oder auch jünger entpuppt als gedacht oder bis zum Schluss in dieser Hinsicht sehr schwer einschätzbar ist. Viele wirken hier deutlich reifer, was natürlich den damaligen Lebensumständen geschuldet ist, während Oliver trotz seiner eigenen schweren Kindheit noch recht unschuldig und naiv rüberkommt. Alles in allem reißt einem die Geschichte mit und man erlebt Höhen und Tiefen mit Oliver und freut sich für ihn, dass er doch ein paar Menschen findet, die ihn in ihr Herz schließen und sich liebevoll um ihn kümmern.

Durch die Dialekte werden hier auch nochmal besonders die Unterschiede zwischen den Gesellschaftsschichten deutlich, selbst wenn dieser teilweise etwas gewöhnungsbedürftig ist. Der Zeit geschuldet ist hier auch der antisemitische Einfluss und dieser spiegelt sich vor allem in der Figur des zwielichtigen Juden Fagin, dem Anführer einer Diebesbande von heimatlosen Kindern wider, der hier quasi alle Vorurteile gegenüber Juden darstellt.

Es gibt hier dann auch bei der ganzen Fülle an Figuren einige wirklich unterhaltsame Zeitgenossen und selbst jemand der hier nur in ein paar Sätzen vorkommt, schafft es den Leser bis ins innerste zu berühren und tiefe Emotionen zu wecken.

Was mir hier leider nicht so gefallen hat ist, dass die Handlung während des letzten Drittel des Buches quasi um Oliver herum verläuft und er selbst erst am Ende wieder in Erscheinung tritt, auch wenn das Geheimnis um seine Abstammung immer noch das vorherrschende Thema ist. Dafür werden alle anderen Figuren in den Vordergrund gerückt und selbst welche mit denen man nicht mehr gerechnet hat, bekommen hier noch einen Auftritt und bestimmen das Geschehen.

Fazit: Ein Klassiker, der mit einem liebenswerten Jungen aufwartet, der trotz all des Elends in seinem Leben niemals aufgibt und sich sein gutes Herz bewahrt. Dazu viel Sozialkritik, die sehr gut die damaligen Verhältnisse widerspiegelt und wohl nicht umsonst damals vielen sauer aufgestoßen ist. Die Handlung selbst verläuft durchaus anders als erwartet, rückt aber gegen Ende den Fokus für meinen Geschmack leider etwas zu sehr von Olivers Person weg, obwohl es immer noch um das Rätsel seiner Herkunft geht. Anfänglich emotional und düster, wird es immer mehr zu einem spannenden Krimi mit etlichen unangenehmen Zeitgenossen und schließt mit einem Ende ab in dem fast ein jeder das bekommt was er letztendlich verdient, auch wenn die Auflösung schon sehr geballt daher kommt und nur auf den ersten Blick alles zur vollsten Zufriedenheit abschließt. Ein Klassiker, der mit interessanten Figuren aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten, Romantik, Melodrama, Unterhaltung, Emotion, Brutalität, Sozialkritik und einer gehörigen Portion an Zufällen aufwartet.
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