Wir leben - oder so ähnlich...
von CorinnaSmiles
Kurzmeinung: Das Leben in 8 Geschichten. Das Leben in Nahaufnahme. Achtung: anspruchsvoll! ;-)
Rezension
Manchmal muss man sich überraschen lassen. Ich weiß nicht genau, was ich erwartet habe, als ich mich für die Leserunde zu Cornelia Travniceks „Wir leben im Nordlicht“, in der acht ältere Kurzgeschichten der Autorin als ebook neu zusammengestellt wurden, beworben habe. Ich mag Kurzgeschichten und bin von der geballten, auf den Punkt gebrachten Sprachkunst immer wieder fasziniert. Aber Travniceks Geschichten sind anders als das, was ich bisher kannte. Das sind keine Geschichten; das ist wie den Kopf durch die Tür von Fremden zu stecken, eine Weile gebannt zuzusehen und dann den Kopf heftig und mit Erschaudern, Traurigkeit, Fassungslosigkeit oder einem Lächeln auf dem Lippen wieder zurückzuziehen.
„Wir leben im Nordlicht“ sind literarische Nahaufnahmen; wenn das Leben von Travniceks Charakteren ein Film ist, dann schenkt sie uns eine Szene, manchmal vielleicht auch nur ein Standbild. In den intensiven Beobachtungen fängt sie deren Träume, Ängste, Sehnsüchte und deren Wahnsinn ein, ohne sich mit erhobenem Zeigefinger daneben zu stellen. Es gibt kein richtig oder falsch, aber es gibt immer ein Gefühl.
Dabei lassen ihre Geschichten immer Spielraum für viele mögliche Interpretationen und Spekulationen (die wir im Rahmen der Leserunde natürlich ausgelotet haben); die Gedanken der Leser/innen dürfen (nein: werden!) ganz unterschiedliche Richtungen einschlagen.
Travniceks Stärke sind ihre wunderschönen Sprachbilder, mal als schlichte, aber starke Vergleiche, mal als märchenhafte Metaphern – so schön, da möchte man sich am liebsten reinknien. Stilistisch sind die Erzählungen – für mein Empfinden – zum Teil ungewöhnlich und ecken an meinem ästhetischen Empfinden an. Doch jeder Stil hat seine Daseinsberechtigung in Bezug zum dargestellten Inhalt, und auch hier ist es vielleicht an der Zeit, sich überraschen zu lassen.
Fazit: eine tolle neue Erfahrung auf dem Gebiet der Kurzgeschichten. Die 51 Seiten sind nicht immer einfach, aber es lohnt sich!