Cover des Buches Das Schneemädchen (ISBN: 9783463406213)
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Rezension zu Das Schneemädchen von Eowyn Ivey

Märchen und realitätsnahe Geschichte

von EliasWittekind vor 5 Jahren

Kurzmeinung: Zwischen Märchen und realitätsnaher Geschichte. Beide Lesarten sind möglich. Mit einer faszinierenden, geheimnisvollen Hauptfigur.

Rezension

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EliasWittekindvor 5 Jahren
Der Roman „Das Schneemädchen“ von Eowyn Ivey erzählt ein russisches Märchen nach, von einem alten, kinderlosen Ehepaar, das aus Schnee ein Mädchen formt, das zum Leben erwacht und ihren sehnlichen Kinderwunsch erfüllt.

Gerade als die betagten Auswanderer Mabel und Jack im rauen Alaska an ihre körperlichen und psychischen Grenzen stoßen, zermürbt von der Wildnis und ihrem unerfüllten Kinderwunsch, der sie wider erwarten überall hin verfolgt, geschieht ein Wunder. Ein Mädchen aus den Wäldern findet zu ihnen und fasst langsam Vertrauen. Doch woher kommt das Kind urplötzlich? Ist es die Fleischwerdung einer aus Liebe und Verzweiflung geformten Figur eines Mädchens aus Schnee oder hat ihr Auftauchen weit weniger märchenhafte Hintergründe. Wird das Kind, das es immer wieder hinauszieht in die Kälte, bei ihnen bleiben oder am Ende verschwinden, wie es das wohlbekannte Märchen vorzeichnet?

Interessanterweise entscheidet sich der Roman meiner Meinung nach nicht, ob er Märchen oder realitätsnahe Erzählung sein möchte. Das Mädchen scheint mit einer traurigen und sehr realen Geschichte geschlagen zu sein. Auf der anderen Seite geschehen unerklärliche Dinge, die scheinbar mit ihr zusammenhängen. Im Laufe der Geschichte wird das Kind immer fassbarer und lebendiger, und fast schon entzaubert. Ob diese Entwicklung ein anderes Ende der Geschichte erlaubt oder der Roman den Gesetzen der Vorlage folgt?

Die Hauptfigur des Romans, das Schneemädchen, finde ich faszinierend, vielschichtig und geheimnisvoll. Einerseits kann man sie als magisches Wesen, leichtfüßig und schwer zu fassen, verstehen, andererseits erinnert sie an Wolfskinder, die isoliert vom Menschen mit Tieren aufwachsen und der Wildnis trotzen.
Meine Lieblingsszene ist, als das Mädchen einen Schwan in einer Falle fängt und mit ihm um Leben und Tod kämpft. Diese Szene hat epische Züge, könnte in einer Fantasiewelt spielen, und zeigt zugleich den Überlebenskampf einer Wilden, die sich durch den unerbittlichen Winter bringen muss.

Der Schreibstil der Autorin ist ruhig und unaufgeregt. Der Ton und die Wortwahl bilden ein festes und angenehm gleichmäßiges Gewebe, welches schockierende Momente so wenig zerreißen wie alltägliche Szenen es in die Länge ziehen.
Besonders gefielen mir die ausführlichen Naturbeschreibungen: „Alles erschien scharf umrissen und glitzerte, als wäre die Welt funkelnagelneu, an ebenjenem Morgen aus einem Ei aus Eis geschlüpft. Weidenzweige waren mit Raureif überzuckert, Wasserfälle in Eis erstarrt und das verschneite Land hundertfach mit den Spuren wilder Tiere gesprenkelt...
Für zwischenmenschliche Beziehungen zeigt die Autorin ebenfalls einen feinen Blick. So wird erzählt, wie das stumpfe Eheleben von Mabel und Jack sich durch das Kind wieder mit einem Reichtum an Empfindungen füllt. „Beide vergingen sie ohne dass der andere es wahrnahm.“ „Mabel konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so absichtlich angesehen hatten. Der Augenblick war wie der Schnee, langsam und schwebend.“ Oder es wird erzählt, wie die burschikose Esther in der Männerwelt von Alaska dankbar ist für weibliche Ansprache, und umgekehrt die unsichere Mabel sich Esthers Courage und Eigenständigkeit zum Vorbild macht. So nimmt auch die Beziehung zwischen Jack und Mabel eine interessante Entwicklung und ihre Rollen, sie hütet das Haus, er bestellt das Feld, verschwimmen mit der Zeit.
Interessant sind auch die verschiedenen Haltungen der beiden Eheleute gegenüber dem Mädchen. Jack, obwohl er weniger an eine Märchengestalt in dem Kind glaubt als Mabel, gesteht dem Schneemädchen seine Eigenständigkeit und sein Leben in der freien Natur zu, während Mabel, die es für ein magisches Wesen hält, das Kind dennoch an sich binden und kultivieren möchte. „Die Kleine erschien ihm stark und zerbrechlich zugleich, wie ein wildes Wesen, das in seiner Heimat prächtig gedeiht, doch sofort verkümmert, wenn es mit Gewalt verpflanzt wird.“ „Wie konntest du nur? Sie da draußen vegetieren lassen wie ein halbverhungertes Tier? Mutterlos. Vaterlos. Ohne Essen und ohne Liebe. Wie konntest du nur?“ „Wünschte er sich das Kind nicht auch als Tochter, mit der er prahlen konnte, die er mit Geschenken überschütten konnte? Wollte er sie nicht in den Armen halten und sein Eigen nennen? Doch solche Sehnsüchte machten ihn nicht blind. Wie eine Regenbogenforelle in einem Strom offenbarte ihm auch das Mädchen mitunter blitzartig ihr wahres Wesen. Ein wildes, glitzerndes Etwas in dunklem Gewässer.“ Einer der besonderen Reize des Romans liegt für mich darin, dass man immer wieder hin und hergerissen wird zwischen den unterschiedlichen Ansichten der beiden.

Zusammenfassend möchte ich sagen: ein sehr schönes Buch, nicht ganz mein Geschmack, da ihm ein paar Ecken und Kanten fehlen. Dennoch möchte ich anerkennende 5 Sterne geben, da es mich stellenweise zu Tränen rührte.

Elias
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