Cover des Buches Wiesenstein (ISBN: 9783406700613)
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Rezension zu Wiesenstein von Hans Pleschinski

Gerhart Hauptmann - Nationaldichter voller Kompromisse

von Sigismund vor 6 Jahren

Kurzmeinung: Gerhart Hauptmann - Nationaldichter voller Kompromisse

Rezension

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Sigismundvor 6 Jahren
Fünf Jahre nach seinem viel gelobten Roman „Königsallee“ um Nobelpreisträger Thomas Mann widmet sich Hans Pleschinski (61) nun in seiner auch für literaturwissenschaftlich Unerfahrene absolut lesenswerten Romanbiografie „Wiesenstein“, im März beim Verlag C. H. Beck erschienen, dem Leben und Wirken des Dramatikers und Lyrikers Gerhart Hauptmann (1862-1946). Während die vordergründige Romanhandlung nur Hauptmanns letzte Lebensmonate zwischen März 1945 und Juni 1946 in seiner geliebten Jugendstilvilla Wiesenstein, „der mystischen Schutzhülle meiner Seele“, im niederschlesischen Agnetendorf umfasst - also die dramatischen Wochen zwischen letzten Kriegstagen, russischer Besetzung, polnischer Rache und der Vertreibung aller Deutschen -, lässt Pleschinski in Gesprächen des Hauspersonals, in Rezitationen aus Hauptmanns Werken, in Tischgesprächen des Dichters oder in dessen Erinnerungen nicht nur das Leben des 83-Jährigen bis in dessen Kindheit als Hotelierssohn in Bad Salzbrunn vor unseren Augen ablaufen. Der Autor zeigt uns vor allem das kulturelle Vermächtnis des in seiner literarischen Vielfalt wie auch politisch schwer einzuordnenden Nobelpreisträgers. Gewiss, manche Passage hätte Pleschinski vielleicht kürzer fassen können. Dennoch bleibt der Roman auch für literaturwissenschaftliche Laien interessant und spannend zu lesen. Der Autor wertet nicht, lässt auch nichts aus. Er verdeutlicht, dass nicht nur Macht, sondern auch Ruhm korrumpiert: Hauptmann wurde zeitlebens, ungeachtet der Widersprüchlichkeit seiner Werke, von Öffentlichkeit und Machthabern wenn nicht verehrt, dann doch geehrt. Schon zu Kaisers Zeiten erhielt er 1912 den Literaturnobelpreis, wurde zum Nationaldichter erhoben. Förderte der Schriftsteller bei Ausbruch des Ersten wie des Zweiten Weltkriegs in seinem Werk die Kriegseuphorie, wandelte er sich nach ersten Verlusten plötzlich zum Pazifisten. Von den Nazis wurde der Volksdichter gebraucht, auch missbraucht. Selbst die russischen Besatzer wissen nach Kriegsende, sein Loblied zu singen. Zuletzt erscheint der ostzonale Kulturwissenschaftler Johannes R. Becher in der Villa Wiesenstein und will unter Verweis auf Hauptmanns Vorkriegsdrama „Die Finsternisse“, in dem er die immerwährende Verfolgung des jüdischen Volkes beklagt hatte, den schon Todgeweihten noch für das neue Deutschland gewinnen. Jeder findet also in der Vielfalt der Werke Hauptmanns für sich mindestens eines, das dem aktuell angesagten Zeitgeist entspricht und alle unpassenden zu vernachlässigen ermöglicht. Pleschinski zeigt die Widersprüche Hauptmanns: Zum 80. Geburtstag nahm dieser 1942 die Ehrungen der Nazis entgegen. Er bewirtete in der Villa Wiesenstein in Kriegszeiten den in Polen als Generalgouverneur eingesetzten Hans Frank ebenso wie später russische Kommandanten. Hauptmann wandelte als gefeierter Nationaldichter zwischen den Welten. Er selbst, den Hitler in die „Liste der Gottbegnadeten“ aufgenommen hatte, hielt sich im Rückblick für überparteilich, nennt sich in Pleschinskis Buch selbst einen „Kompromissler“, gesteht kurz vor seinem Tod aber dann doch mit Blick auf seinen langjährigen Rivalen um die Publikumsgunst, den frühzeitig emigrierten Thomas Mann: „Wer nur zuschaut, ist deswegen noch lange nicht unschuldig.“ Pleschinskis Roman „Wiesenstein“ ist ein wunderbares Buch, das jeder Freund deutscher Literatur lesen sollte.
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