Erstaunlicher Roman über die Wunden des Krieges
Ein junger Bosnier landet in New York, das als Zwischenstation auf seinem Weg nach Kalifornien dient, um in den Vereinigten Staaten Fuß zu fassen und ein neues Leben zu beginnen. Ein Leben, das möglichst frei von Krieg, Schrecken und Terror sein sollte.
Der Titel dieses beeindruckenden Romans "Scherben" des 1977 im bosnischen Tuzla geborenen Ismet Prcic kann auch als struktureller Impetus für die Form dieses Textes verstanden werden. Alles zerbricht und verfällt. Die Heimatstadt, das Heimatland, die Jugend, die Ehe der Eltern, die Jugendliebe; auch das neue Leben im sonnigen, vielversprechenden Kalifornien ist vom Trauma der Jugend- und Kriegsjahre des Protagonisten Ismet Prcic geprägt, der nicht zufällig den selben Namen wie der Autor trägt und somit ein zumindest teilweise fiktives alter ego des Autors ist.
Im Verlauf dieses sich nicht linear entwickelnden Romans gibt es immer wieder in den Text eingeschobene und möglicherweise nie abgeschickte Briefe an die in Tuzla lebende Mutter. Briefe, die als mehr oder weniger verstecke Hilferufe interpretiert werden können. Auch ein Tagebuch, initiiert durch den Therapeuten des Protagonisten, liefert eine weitere Ebene in diesem vielschichtigen Buch. Die Anweisung des Therapeuten, alles aufzuschreiben, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob es wahr ist, oder nicht, wird von Ismet Prcic konsequent verfolgt. So verschwimmt sehr bald die Trennlinie zwischen vermeintlich realitätsnaher Erzählung und den ins Surreale abschweifenden Entwicklungssträngen.
Während der junge Ismet den Krieg, der seine Jugendzeit von 15 bis 18 zutiefst prägt, am eigenen Leib und im täglichen Leben erlebt, erlebt er ihn auch vor dem Fernseher. So, wie ihn zum Beispiel die Menschen in Österreich, Deutschland oder Italien erlebten. Dadurch ergibt sich ein interessanter Blickwinkel, quasi von innen, aber dennoch auch von außen. Während er in seiner Wohnung sitzt, nimmt er den Einschlag einer Artillerie-Granate in der Altstadt von Tuzla wahr, denkt sich aber nicht viel dabei, da er ähnliche Geräusche täglich wahrnimmt. Erst später, durch die Fernsehberichte, erfährt er, dass es sich dabei um den schlimmsten Angriff der Serben auf Tuzla gehandelt hat, ein Massaker, das, da es sich noch dazu um den "Tag der Jugend" gehandelt hat und dementsprechend viele Jugendliche auf den Straßen unterwegs waren, 71 jungen Bosniern das Leben gekostet hat.
Auch die Geschichte eines besonders geheimnisvollen Mustafas schiebt sich immer wieder zwischen die Erzählungen des Protagonisten. Lange ist nicht klar, in welchem Zusammenhang dieser Mustafa zum Protagonisten steht. Welche Funktion dieser Erzählungsstrang hat. Ob er gar nur imaginiert ist? Mustafa entpuppt sich allerdings als eine Art fiktiver Doppelgänger. Er wird zum Kriegsdienst eingezogen und liefert somit eine wieder andere Perspektive auf die Gräueltaten des Krieges. Eine Figur, die physisch und erzähltechnisch zerfällt und am Ende doch mit dem vermeintlichen Protagonisten gemeinsam kollabiert, so dass man, so der Autor, nicht mehr wissen kann, welche der beiden Figuren wer ist.
Der Protagonist Ismet versucht, sich durch Theaterspielen in eine andere Welt zu zaubern, versucht, dadurch Befreiung zu erreichen. Da Entkommen aus den Kriegswirren undenkbar erscheint, stürzt er sich mit absoluter Vehemenz in seine Rollen bei der Laiengruppe, bei der er Mitglied ist. So fällt es ihm leichter, den Krieg so gut wie möglich zu ignorieren. Diese Laiengruppe ermöglicht ihm dann auch später, indirekt, auf einer Tournee in Großbritannien, die Flucht.
Der gewichtigste Teil des Romans aber beschäftigt sich mit den Erinnerungen an die Jugendjahre von Ismet. Seine Kindheit und Jugend in Tuzla. Scheinbar ungeordnet tauchen sie auf, brechen aus, je nach Lust und Laune. Auch die Erzählperspektiven wechseln sich hier zwischen Ich-Form oder zweiter und dritter Person launisch ab. So chaotisch, wie das erscheinen mag, ist aber auch Ismets Leben.
Ismet Prcics Erstlingsroman "Scherben" ist ein wirklich erstaunliches Buch, vielschichtig, aufwühlend und perfekt konstruiert. Ein Buch, das einen unvergesslichen Blick auf einen unbegreiflich brutalen Krieg wirft, ein Roman, der sich unvermeidlich ins Gedächtnis brennt. Und das kann nur ganz große Literatur.
(Roland Freisitzer; 03/2013)