Rezension zu "Die Qualen des Narzissmus" von Isolde Charim
Mitte des 16. Jahrhunderts fragte sich ein Intellektueller, warum sich Menschen freiwillig Tyrannen unterwerfen. Man findet die Quelle in der Vorrede zu diesem reichlich komplizierten, aber mehr als fragwürdigen Text. Freiwillige Unterwerfung beobachtete die Autorin auch während der unsäglichen Corona-Maßnahmen. Und scheinbar war das für sie der Anlass, sich diesem Problem aus philosophischer Sicht zu widmen. Ihre Erklärung für diese seit Jahrhunderten immer wieder beobachtbare freiwillige Unterwerfung ist ein angeblicher Narzissmus, der sich erst in den letzten Jahren als gesellschaftliches Phänomen entwickelt hat.
An dieser Stelle (bereits in der Vorrede) bin ich das erste Mal an diesem Buch gescheitert. Wieso, so habe ich mich gefragt, sieht die Autorin nicht, dass sie sich mit dieser Antwort in einen krassen und mehr als offensichtlichen Widerspruch manövriert? Und wieso hat ihr das niemand gesagt? Wenn sich Menschen bereits vor knapp 500 Jahren (und sicher auch viel früher schon) freiwillig unterworfen haben, dann kann doch die Erklärung dafür nicht in einem modernen Phänomen liegen.
Mein Verdacht ist, nachdem ich mich im zweiten Anlauf durch diesen Text gequält habe, dass es Isolde Charim überhaupt nicht um eine Erklärung für freiwillige Unterwerfungen ging, sondern vielmehr um den von ihr ausgemachten Narzissmus. Sie brauchte vielleicht einen Aufhänger für ihr Thema. Und da kam ihr die Pandemie gerade recht.
Da ich eine naturwissenschaftliche Ausbildung habe, beeindrucken mich Texte wie dieser nicht. Im Gegenteil: Sie ermüden, denn üblicherweise beginnen sie mit unscharfen Begriffen. Das ist auch hier so. Für Narzissmus existiert eine Definition. Sie betrifft allerdings eine psychische Erkrankung. Doch Frau Charim fängt nun an, diesen Begriff auf ein gesellschaftliches Phänomen zu trimmen, also weg von einer Einzelpersönlichkeit und hin zu einer Massenerscheinung. Damit verschwimmt der Begriff und alles gerät ins Diffuse. Daraus kann einfach nichts wirklich Handfestes oder gar Nützliches entstehen.
Zu allem Überdruss kommt dann auch noch Freudsche Denkmuster ins Spiel, also etwas, was auch aus zahlreichen schwer fassbaren Begriffen und halbgaren Theorien besteht, für die es keinen wirklichen Beweis gibt.
Ich kann mir zwar irgendwie vorstellen, was Frau Charim mit dem von ihr ausgemachten Narzissmus meint, aber wirklich erklären kann ich es genauso wenig wie sie. Freiwillige Unterwerfung erklärt das reichlich aufgeblähte und komplizierte Geschwätz jedoch nicht. Wie auch? Wenn das Phänomen neu ist, warum haben sich dann bereits früher Menschen freiwillig unterworfen?
Es gibt Untersuchungen, die ziemlich sicher belegen, dass Menschen sich eher für Sicherheit als für Freiheit entscheiden würden, hätten sie eine Wahl. Begehrt man gegen Unfreiheit oder Unterdrückung auf, dann geht man ein hohes Risiko für die eigene Sicherheit ein. Das meiden die meisten Menschen offenbar.
Und darüber hinaus existieren Urängste, etwa die Angst vor dem Ausschluss aus der Gruppe, der früher mit dem sicheren Tode in der Wildnis geendet hätte. Das ist in noch unseren Genen gespeichert. Gegen den Rudelführer aufzubegehren gehörte schon immer zu den größten Risiken von Herdenmitgliedern. Und deshalb erheben sich Menschen in der Regel in Massen nur, wenn entweder die Gefahr nicht besonders groß oder die Alternative zum Aufbegehren noch schlimmer ist.
Darüber hinaus sind Herrscher in der Regel gut organisiert, die Masse aber nicht. Ich will das hier nicht alles ausweiten, sondern lediglich am Rande erwähnen, weil es die viel schlüssigere Erklärung für eine freiwillige Unterwerfung ist. Wenn man nämlich nichts gegen ein System der Unterdrückung tun kann, ist es viel weniger riskant, sich zu unterwerfen oder sich ihm gar anzudienen.
Anstatt sich also bei Freud zu bedienen, hätte sich Frau Charim besser mit Massenpsychologie befassen sollen, zumal es auf diesem Gebiet genug Literatur gibt, die das von ihr beklagte Phänomen viel besser und schlüssiger erklären kann.