Cover des Buches Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte (ISBN: 9783498074005)
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Rezension zu Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte von Martin Walser

Gleißende Oberschenkel

von Aliknecht vor 6 Jahren

Kurzmeinung: Ein neues, gutes und witziges Buch von Martin Walser. Die politisch korrekte Anti-Claque hat schon begonnen sich aufzuregen.

Rezension

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Aliknechtvor 6 Jahren
Er hat eine Ehefrau, eine Geliebte und dazu noch andere Schwierigkeiten. Bei einem Opernbesuch stand sie in der zweiten Pause neben ihm an der Bar. Von Tristan ganz beseeligt ließ er sich dazu hinreißen, mit der Spitze seines Zeigefingers auf den "gleißenden Oberschenkel" der ihm unbekannten jungen Frau zu tippen. Er zog den Finger sofort wieder zurück und prostete ihr zu. Sie erwiderte sein Prosit. Einen Tag später berichtete die Süddeutsche Zeitung, ein Oberregierungsrat aus dem Justizministerium hätte eine Praktikantin grob begrapscht und obszön angeredet. Man verfügte darauf nach einigem hin und her seine Früh-Pensionierung.

Unter dem neuen Namen Justus Mall beginnt er einen Blog im Internet, in dem er sich an eine "liebe Unbekannte" wendet, die ihn vielleicht versteht. Er sucht eine Dritte, die keine Entscheidung von ihm verlangt. Wie das heute viele tun, postet er regelmäßig seine Wünsche und Befindlichkeiten ins Netz. Er schreibt mit einer Inbrunst, wie sie früher wohl nur im Gebet in der Zwiesprache mit dem Lieben Gott Anwendung fand, an ein unbekanntes Publikum, das hoffentlich die richtige einschließen möge. Auf günstiges Echo wird gehofft.

Nicht nur der Roman hat sich zum Blog gewandelt, sondern auch die deutsche Sprache hat sich verwandelt und ist deutlich mit Anglismen angereichert. Und zwar nicht in der einfachen fast naiven Art wie etwa damals in den Sechziger-Jahren Uwe Johnson, von New York völlig überwältigt, ein paar Wörter der Neuen Welt in die "Jahrestage" eingebaut hat, sondern mehr in der Art wie heute vielgereiste Kosmopoliten und schwarzgekleidete Intellektuelle reden und schreiben. Was heißt denn z. B. "surcease", das die Geliebte so ausdauernd und gern verwendet? Da muss der deutsche Leser schon manchmal ein Wort nachschlagen. Dieser Roman greift frech aktuelle Trends und Entwicklungen auf und thematisiert und ironisiert sie ein wenig. Daneben werden aber auch Erfahrungen eines langen männlichen erotischen Schriftstellerlebens weitergegeben, etwa wenn Martin Walser schreibt: "... der unvergessliche Blick eines seine Brüste zelebrierenden Mädchens. Andauernd zieht sie das rutschende Leinenkleid über die sich sträubenden Hügel und schaut einen an, als wisse sie, was man, wenn man sie anschaut, denkt. Dabei - das weiß man sicher - weiß sie das nicht" [1].

Ein neues, gutes und witziges Buch von Martin Walser. Die politisch korrekte Anti-Claque hat schon begonnen sich aufzuregen. Das ist doch schon mal ein gutes Zeichen. Oder?

Ausgabe: Martin Walser "Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte" Rowohlt Reinbek 2018, Erstausgabe (gelesen im April 2018)

Referenzen:

[1] Seite 33
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