Rezension
I
Ilona_Arfaouivor 6 Jahren
Bekanntermaßen ging Zeus mit seinen Familienmitgliedern nicht gerade zimperlich um, so wie auch das Familienoberhaupt in Salih Jamals neuen Roman Orpheus. Ein korrupter Chef und Patriarch eines Konzerns, der gleichermaßen den Namen des Göttervaters trägt, und ein schreckliches Geheimnis verbirgt. Überhaupt scheint sich ein Teil des Olymp in diesem Roman versammelt zu haben, Hera, die eiskalte Gattin, Ari - Orpheus Bruder, der vergeblich gegen seine finsteren Dämonen ankämpft und letztendlich Onkel Dino, der trink- und sinnenfreudige Freigeist (meine persönliche Lieblingsfigur). Und natürlich der Musiker Orpheus und seine Eurydike, die im Roman den Namen Nienke trägt, eine Anwältin, die einen längst vergangenen Mord mit dem Patriarchen in Verbindung bringt. Als sie schließlich spurlos verschwindet, macht sich Orpheus verzweifelt auf die Suche nach ihr. Mich hat nicht nur begeistert, wie der Autor das antike Drama in die Neuzeit versetzt hat, sondern vor allem seine Sprache - poetisch, wuchtig sowie manchmal von einer fast unerträglichen Brutalität und tiefer Traurigkeit. Ich jedenfalls habe mit Orpheus gelitten bis zum Ende, die Grausamkeit des Großvaters gehasst, sogar Aris zerstörte Seele bemitleidet und mich an Onkel Dinos Ausschweifungen erfreut. Man muss die Originalsage nicht unbedingt kennen, aber irgendwie lohnt es sich vielleicht sie doch einmal nachzulesen, ich habe es jedenfalls getan. Fazit: Salih Jamal ist nach „Briefe an die grüne Fee“ wieder in seinem unverwechselbaren Stil ein außergewöhnlicher und berührender Roman gelungen. Und ich warte gespannt auf den nächsten Roman.