Cover des Buches Ahasver (ISBN: 9783570004166)
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Rezension zu Ahasver von Stefan Heym

Rezension zu "Ahasver" von Stefan Heym

von Leserrezension_2009 vor 15 Jahren

Rezension

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Eingereicht von ulrike229: Vor einigen Jahren gab es in unserem kleinen Dorf einen Flohmarkt, auf dem gebrauchte Bücher angeboten wurden. Der Preis der Bücher wurde anhand eines Kilopreises festgelegt. Ein bestimmtes Buch lenkte meine Aufmerksamkeit an den Stand, ich wollte es kaufen, aber die Dame am Stand riet mir, noch zusätzliche Bücher zu nehmen – man bezahle hier für jedes angefangene Kilo, ich könne mir also mindestens zwei Bücher aussuchen. An das Buch, das mich ursprünglich zum Stand führte, erinnere ich mich heute nicht mehr. Dafür aber an das zweite – ein vergilbtes Exemplar, dessen Cover den Umriss eines nackten Mannes mit Flügeln zeigt – es war Stefan Heyms Ahasver, den ich so zufällig und unwissend erworben hatte und der mich so nachhaltig beeindruckte. Ich halte diese erste Ausgabe des Verlags „Der Morgen“ noch heute in Ehren, als sei sie Gold wert. Stefan Heyms Roman beginnt, unbarmherzig im Geschehen, mit dem Fall der beiden Engel Ahasver und Luzifer: „Wir stürzen. Durch die Endlosigkeit des oberen Himmels, des feurigen, der aus Licht ist, aus dem gleichen Licht, von dem unsere Kleider gemacht waren, deren Glorie von uns genommen wurde, und ich sehe Luzifer in all seiner Nacktheit, und in seiner Hässlichkeit, und mich schauert. Bereust du?, sagte er. Nein, ich bereue nicht.[…]“ Beide wurden von Gott verstoßen, weil sie sich weigerten, die, in ihren Augen unvollkommenen und verdorbenen Menschen, zu ehren. Auf der Erde sucht Ahasver dann Reb Joshua, den Sohn Gottes, um ihn zu überzeugen, mit einer Rebellion die Welt zu verändern und zu verbessern. Jesus ist allerdings überzeugt, dass er die Prophezeiung erfüllen muss und erduldet vorerst sein Schicksal. Der zweite Handlungsstrang des Romans spielt in Zeiten der Reformation und erzählt von Paulus von Eitzen, der eine klerikale Karriere anstrebt. In einem Gasthaus trifft er auf Leuchtentrager, also Luzifer, der ihn fortan in seinen Bestrebungen unterstützt. Im Verlauf der Geschichte begegnet von Eitzen auch Ahasver, den er jedoch aufgrund seines Antisemitismus und persönlicherer Motiven anfeindet. Ein dritter Sprung in der Handlung: die DDR im Jahre 1980. Professor Jochanaan Leuchtentrager der Hebrew University diskutiert in einen Briefwechsel mit seinem Kollegen Prof. Dr. Dr. h.c. Siegfried Beifuß, dem Leiter des Instituts für wissenschaftlichen Atheismus der DDR, über die reale Existenz Ahasvers. Obwohl die Beweise von Leuchtentrager stichhaltig sind, kann und darf Beifuß die Existenz aus ideologischen Gründen nicht anerkennen. Die Geschichte des Romans ist eine geschickte Verflechtung historischer Personen und Tatsachen, bekannter Erzählungen und reiner Fiktion. Dieser Mix ist so gelungen, dass es schwer fällt, tatsächliche Begebenheiten vom Erdachten zu unterscheiden. Zusätzlich entführt Stefan Heym den Leser sprachlich so überzeugend aus dem Heute, dass man glauben könne, soeben eine Zeitmaschine betreten zu haben – während die mythologischen Teile bibelartig daher kommen, ist die von-Eitzen-Handlung im mittelalterlichem Deutsch verfasst und die Korrespondenz der beiden Wissenschaftler ist so treffend formuliert, dass man denken könne, hier diskutiert tatsächlich ein treuer DDR Bürger mit einem Gelehrtem aus Israel. Die Figuren sind so wunderbar ausgestaltet, dass wirklich eine jede in ihren Stärker und Schwächen so berührbar wirkt, als tauche man mitten in die Handlung ein. Eine sehr beklemmende Figur hat Heym mit Luzifer geschaffen. Er tritt nicht etwa als Gegenspieler zum Menschen auf, nein, er bestärkt den Menschen in seinem Handeln, wohl wissend, dass er so den eigentlichen Schaden auslöst. Nicht zuletzt ist der Roman so großartig, weil er so umfassend kritisiert – heimlich, sarkastisch, aber immer treffend und schmerzhaft. Zur Magisterprüfung rät Leuchtentrager Paulus von Eizen: "[...] frisch drauflos geschwatzt, die ganze Theologie ist doch nur ein Wortgeklaub und irgendein Spruch passt immer.[…]". Doch nicht nur die Kirche, sondern auch die damalige DDR, der Obrigkeit als solche und den Menschen wird ein Spiegel vorgehalten. Besonders aufrüttelnd ist die Aussicht, die Heym bereits im Jahre 1981 gibt: „Rabbi, sagte ich, die Unvollkommenheit der Menschen ist die Ausrede einer jeden Revolution, die ihr Ziel nicht erreicht hat [...]“. Jahre später wird unter anderem diese Unzulänglichkeit der Menschen für das Scheitern des Sozialismus in der DDR verantwortlich gemacht. Stefan Heym möge mir verzeihen. Mit dieser Rezension konnte ich nicht einmal einen Bruchteil dieses unfassbar gelungenen Romans ehren. Dafür kann ich aber dazu aufrufen, das Buch zu lesen und sich selbst einen Eindruck zu verschaffen. Jeder, der Sprache und Literatur liebt, wird mit diesem Roman in seiner Zuneigung bestärkt, denn er demonstriert, welche unglaubliche Tiefe ein Buch besitzen kann – Stefan Heyms Ahasver ist eine mutige Kritik mit kraftvollen Worten und spitzfindigem Humor. Ich bewundere Stefan Heym für dieses Meisterwerk und habe bis heute kein Buch gelesen, das nur annährend so vielschichtig und großartig war.
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