Cover des Buches Die Elenden von Lódz (ISBN: 9783608938975)
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Rezension zu Die Elenden von Lódz von Steve Sem-Sandberg

Rezension zu "Die Elenden von Łódź" von Steve Sem-Sandberg

von M.Lehmann-Pape vor 12 Jahren

Rezension

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M.Lehmann-Papevor 12 Jahren
Leben und Sterben im Ghetto von Lodz „Sechsundsechzig Jahre lebe ich nun schon und bin des Glücks, mich Vater nennen zu können, noch immer nicht teilhaftig geworden, und jetzt verlangen die Behörden von mir, dass ich alle meine Kinder opfere.“ Innerlich vor Schmerzen scheint sich der Judenälteste des Ghettos, Rumkowski, zu krümmen, als ihm die deutschen Behörden mitteilen, dass er umgehend Listen abzuliefern hat. Die Alten und Kinder des Ghettos sind nun der nächste Schritt, nachdem die Kranken bereits abtransportiert wurden. Aber krümmt er sich wirklich vor Schmerzen? Es wird sich herausstellen, dass Rumkowski beileibe kein „Widerstandkämpfer vor dem Herren“ ist und in dieser Figur, ebenso wie in vielen anderen handelnden Personen des Romans, erweist sich umgehend, dass Steve Sem-Sandberg vor allem eines nicht ist. Oberflächlich. In diesem Augenblick, mit diesem erneuten Opfer unter vielen Opfern, setzt der Roman ein und wendet sich der Geschichte des Ghettos von Lodz zu. Durchaus mit einbeziehend, aber weniger in den zentralen Fokus setzt Sem-Sandberg hierbei die äußere Geschichte des Ghettos. Sein eigentliches Interesse aber gilt dem „Innenleben“ des Ghettos, jener Atmosphäre von Not, Verzweiflung, aber auch Kollaboration und Hilfestellung für die Vernichtungsmaschinerie der Nazis, die auch Teil dieser immerwährend aktuellen Geschichte des Holocaust ist. Nicht aber nur vordergründig auf den eigenen Vorteil bedacht ist jener Judenälteste. Auch das wäre zu einfach gedacht, nicht nur im Roman. Durchaus eine Form innerer Logik wohnt ihm inne, sozusagen ein Plan, sich durch Annäherung an die deutsche Herrschaft und Verinnerlichung derer Vorgaben einen Platz für sich und „seine“ Juden zu sichern. Wobei ihm das Individuum, der einzelne, nicht von Bedeutung erscheint und auch emotional Rumkowski das Geschehen kaum nahekommt. So differenziert schwankt auch der Leser in der Betrachtung dieses Judenältesten zwischen Abscheu und Anflügen von Verständnis und erhält auf diese Weise ein direktes Empfinden für die Widersprüchlichkeit jener bedrängten Situation und jener perfiden Logik, die über das Leben im Ghetto herrschte. Und erlebt die Hilflosigkeit und Ohnmacht der Ghettobewohner hautnah mit, die, egal auf welche Art und Weise auch immer, der geplanten Vernichtung nicht wirklich entgehen können. Auch wenn Rumkowski in seiner inneren Irrung, seiner ihm eigenen Vorteilsnahme die zentrale Figur des Romans darstellt und Sem-Sandberg damit eine reale, geschichtliche Person zum Ankerpunkt seines Romans gestaltet, beileibe nicht nur um ihn drehen sich die Geschehnisse im Buch. Immer wieder setzt Sem-Sandberg andere Personen in das Scheinwerferlicht seiner Betrachtung, lässt dokumentarische Einschübe einfließen und erschafft so eine ungeheuere Nähe zum Leben im Ghetto und zum Erleben einzelner Schicksale. Eine Nähe, der sich der Leser kaum entziehen kann und in der das Leiden, die Intrigen, die Komplizenschaft und, eben, die Grausamkeit jener „Durchgangsstation“ authentisch und teils schrecklich zu lesen in den Raum tritt. Der sich der Leser gerade aufgrund der Nüchternheit, der Dokumentationsartigkeit, kaum entziehen kann. Trotz der literarischen Verarbeitung überhöht Sem-Sandberg nichts, beschönigt nichts, übertreibt nicht, sondern legt seine Personen (allesamt mit realem Hintergrund) und die Allgegenwärtigkeit des Terrors und des Verlustes eher nüchtern berichtend im Buch vor. „Die Elenden von Lodz“ ist ein romanhaftes Zeitzeugnis der besonderen Art, dass so schnell den Leser nicht mehr loslassen wird. Hart, schmerzlich, das innere Erleben und die Motive der Figuren hell ausleuchtend hält es schmerzliche Fragen nicht nur an die Geschichte, sondern auch an die Gegenwart menschlicher Verblendung und Grausamkeit offen.
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