Seiltanz - Von der Kunst, das Leben auszuhalten, ohne das Gleichgewicht zu verlieren
von marstraveller
Kurzmeinung: Eine Liebesgeschichte - zart, verletzlich, von der Vergangenheit überschattet und doch voller Poesie und Hoffnung - zauberhaft erzählt
Rezension
An dieser Novelle haben mich sofort der Aufbau und die sprachliche Gestaltung begeistert. Die einzelnen, sehr kurz gehaltenen Episoden/Kapitel, die manchmal nur aus einem Gedicht oder einer kleinen Notiz bestehen, wirken wie Streiflichter, die auf verschiedenen Zeitebenen die Geschichte flashlightartig ausleuchten und in einem angenehm entschleunigten Tempo vor dem inneren Auge des Lesers das Gesamtbild entstehen lassen. Besonders berührt haben mich gleich zu Beginn schon die lyrischen Passagen, die sehr eindrucksvoll auf assoziative Weise mit der erzählten Handlung verknüpft sind. Auch die wohldosiert eingesetzten Bilder und Metaphern, wie z. B. die des Seiltanzes, haben den Lesegenuss verstärkt.
Die behutsame Annäherung zwischen dem sechzig Jahre alten Lehrer Julius und seinem ehemaligen Schüler Leonid wird einfühlsam, ruhig und überzeugend realistisch dargestellt. (Irritiert hat mich nur, dass ein Lehrer offensichtlich Schüler von der ersten Klasse bis zum Abitur unterrichtet. Gibt es das in irgendeinem Bundesland oder gehört das zur Freiheit der Fiktion?) Es gelingt der Autorin, ihren Figuren mit sparsamen, dafür aber sehr aussagekräftigen Mitteln klare Konturen zu verleihen und sie für den Leser lebendig und sympathisch erscheinen zu lassen. Beide Hauptfiguren verbindet miteinander, dass sie, obwohl ihnen das Schicksal nicht gerade wohlgesonnen war, das Leben dennoch bejahen und bereit sind, das Wagnis einer neuen, leicht zerbrechlichen Liebe einzugehen.
Dass gegen Ende der Novelle eine mystische oder fantastische Komponente hinzu kommt, hat mich zunächst etwas gestört, wirkt aber innerhalb der Handlung stimmig und hält durchaus interessante Denkansätze bereit.
Der Schreibstil wirkt ausgereift und bis ins einzelne Wort sorgfältig durchdacht. Ich habe es als angenehm empfunden, dass nicht alles ausgesprochen oder gar bis ins Detail seziert wird (vor allem, wenn es um Julius' frühere Liebesbeziehungen und den damit verbundenen Schmerz oder um Leonids emotionalen „Seiltanz“ geht). Statt dessen werden Hinweise und Andeutungen gestreut, die gerade das richtige Maß an Informationen enthalten, um dem Leser eine Vorstellung der Hintergründe zu vermitteln, gleichzeitig aber noch Fragen offen lassen oder genügend Interpretationsspielraum gewähren, um den Spannungsbogen nicht vorzeitig abflauten zu lassen. Auf diese Weise konnte mich die Geschichte von Anfang an so fesseln, dass ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen wollte.
„Sein Artist“ erzählt von der Kunst, das Leben auszuhalten, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Die Novelle vermittelt trotz allem die Zuversicht, dass auch ein Sturz in die Tiefe, der misslungene Tanz auf dem Seil, nicht das Ende sein muss. Ein absolut empfehlenswertes Buch für alle, die eine ausgefeilte, bildreiche, teilweise auch lyrisch geprägte Sprache schätzen und sich gleichzeitig auf die Darstellung einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte einlassen, die von berührender Zartheit geprägt ist, aber auch auf verstörende Weise von einer schicksalhaften Vergangenheit überschattet wird.