Cover des Buches Das Haus (ISBN: 9783518422663)
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Rezension zu Das Haus von Andreas Maier

Rezension zu "Das Haus" von Andreas Maier

von capkirki vor 12 Jahren

Rezension

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capkirkivor 12 Jahren
Durch Zufall bin ich über „Das Haus“ von Andreas Maier gestolpert. Irgendwo habe ich einen kurzen Auszug gelesen, in dem Maier über die Bad Nauheimer Stockenten schrieb und da Bad Nauheim meine Heimatstadt ist, bin ich natürlich hellhörig geworden. Nach kurzer Recherche wanderte das Buch in meinen Einkaufskorb und dann zu mir nach Hause. Was für ein Glücksgriff! Ich hab mich sofort in den Stil des Autors verliebt, in seine langen Sätze, seine Denkweise, seine Art, die Geschichte aus der Sicht eines Kindes zu erzählen, eines Kindes, das es nicht leicht hatte im Leben. „Das Haus“ ist eine Fortsetzung seiner geplanten elfbändigen Romanserie und somit sicher nicht das letzte Buch, das ich von diesem Autor lesen werde. Es ist ein autobiografisches Werk über seine Kindheit in der Wetterau. Maier erzählt von seinen ersten drei Lebensjahren, die er vor allem mit der Urgroßmutter verbringt und an die er sich später mit grosser Sehnsucht erinnert. „Und ich mache mir meine mir nicht mehr gegenwärtige Urgroßmutter dadurch wieder lebendig, dass ich die alten Wege von damals gehe und an den Plätzen sitze, auf denen sie damals auch sass, mit mir als Säugling. Und auch wenn der gegenwärtige Bürgermeister mit grosser Energie an der Vernichtung dessen arbeitet, was meine Geburtsstadt einstmals war, so ist doch ein Teil meiner damaligen Jahre tatsächlich noch vorhanden und noch nicht ins Nichts zurückgewandelt worden: die Uhlandstrasse mit ihren Häusern, der Solgraben, der Park, die Gradierwerke, auch ein Großteil der Cafés, die meine Urgroßmutter mit mir aufsuchte, ist noch da. Wenn ich dort spazierengehe, rede ich mir immer ein, ich liefe eigentlich durch meine frühste Seelenlandschaft.“ Oh wie gut kann ich ihn verstehen… Doch dann bauen seine Eltern ein grosses, kaltes Haus in Friedberg und ziehen um. Der „Problem-Andreas“, der schon als Kleinkind kaum gesprochen hat, zieht sich hier vollkommen in seine eigene Welt zurück. Frühstücke in der grellen Küche sind ihm ein Graus, der erste Tag im Kindergarten ist auch gleichzeitig der letzte und die Schule ist ein einziger Leidensweg. Mit scharfer Beobachtungsgabe beschreibt Maier die Zwänge des Familienlebens, seinen Rückzug aus diesem Leben, nur in seinem Bett unter der Decke und unten im Bastelraum fühlt er sich geborgen. „Im Grund habe ich von den Jahren vor der Schule vor allem in Erinnerung, wie ich dort unten im kleinen Bastelraum saß, allein mit mir und aufgegangen in einer Tätigkeit, die mich völlig aufhob. Ich war aus der Familie ausgeklinkt und lebte so lautlos und zufrieden vor mich hin“ Es ist ein ehrlicher Roman über das Leben drinnen im Haus und draussen in der Welt – ein großes Werk über die Sehnsucht nach Geborgenheit, nach dem Paradies ohne Zwänge, ja sogar ohne Menschen. Ein Roman, den man lesen sollte, wenn man die leisen Töne liebt, die doch so Grosses beschreiben. „Aber dann erschuf mein Gehirn aus den eingebildeten Lichtreflexen unter meinen Augenlidern seine eigenen Figuren, lebendige Muster, von meiner Phantasie mit Leben begabte Wesen, die aber nur so etwas wie eine organische Reaktion meiner Augen auf die Dunkelheit waren. Sie waren grün, rot, gelb, blau, sie schillerten in allen Farben und hatten phantastische Formen, waren aber zugleich wie die Menschen in meiner nächsten Umgebung. Traumgebilde, aber für das Kind eine höhere Form von Realität. Schon lange hatte ich eine Art von Freundschaft mit diesen Nachtfiguren geschlossen. Sie erzählten mir Geschichten und ich ihnen, aber sie konnten auch jedes Mal durch meinen Wunsch in einen vorherigen, amorpheren Zustand zurückgleiten und wieder zu rein ornamentalen, seelenlosen aber doch lebendig bewegten Figuren werden. Mit diesen Figuren in meinen Augen konnte ich mich beschäftigen wie mit Mustern, die man in einem Teich verursacht, indem man einen Stab hineintaucht und durch kreisende Bewegungen Höfe und andere Formen erzeugt. Bis heute kommt es mir so vor, als habe damals mein Kopf begonnen, mir eine Geschichte zu erzählen, die Geschichte meiner Welt oder der Welt schlechthin. Vielleicht erzählten mir diese Geschichten auch meine Augen, meine Retina, vielleicht waren es meine überstrapazierten Nerven oder der liebe Gott, keine Ahnung. Vielleicht war es einfach die Welt, die mir die Welt erzählte. Seitdem ist mir immer dieser Gedanke geblieben, dass ich nach wie vor daliege und dass es noch immer damals ist, noch vor der Grundschulzeit und eigentlich noch zur Zeit meiner Urgroßmutter und dass dennoch alles bereits da und komplett vorhanden ist bis zum heutigen Tag, da ich im Zimmer meines Onkels sitze und dieses schreibe, das Zimmer, das Haus und alles weitere, die ganze Ortsumgehung, während sie draussen ihre Ortsumgehung bauen und meine Herkunft und alles, wovon ich schreibe, Zug um Zug ins Einstmal planieren.“
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