Cover des Buches Die Leinwand (ISBN: 9783406598418)
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Rezension zu Die Leinwand von Benjamin Stein

Die Leinwand von Benjamin Stein

von FabAusten vor 11 Jahren

Kurzmeinung: Ein Roman, der spannende Fragen stellt, die nicht einfach zu beantworten sind und den Geist noch nach dem Ende des Buches beschäftigen.

Rezension

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FabAustenvor 11 Jahren

Die Leinwand

Jan Wechsler ist in der DDR aufgewachsen und lebt nun in München, wo er als Journalist und Verleger tätig ist. Eines Tages wird ihm ein Pilotenkoffer zugestellt. Ein handgeschriebene Schild am Gepäckstück weist ihn als Besitzer aus. Doch obwohl weder der Koffer noch sein Inhalt ihm bekannt erscheinen, steht alles in Bezug zu ihm. Jan beginnt zu zweifeln. An seinen Erinnerungen, seinem Leben und seiner Identität....

Amnon Zichroni stammt aus Israel. Später geht er in die Schweiz, studiert in den USA und kehrte schließlich als Psychiater nach Zürich zurück. Er hat eine besondere Gabe. Wenn er jemanden berührt, wird er in dessen Erinnerungen hineinversetzt. Eines Tages lernt Zichroni den Geigenbauer Minsky kennen. Der überlebte als Kind zwei Konzentrationslager, verlor seine Familie und wurde von einem Schweizer Ehepaar nach Kriegsende adoptiert. Minsky schreibt ein Buch über seine Erlebnisse, doch dann taucht Jan Wechsler auf und behauptet, Minsky habe dies alles nie erlebt.

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Das Buch besitzt zwei Cover, hinter jedem verbirgt sich ein Handlungsstrang mit einem Protagonisten. Der Leser kann entweder mit Jan Wechslers Geschichte beginnen und das Buch dann wenden oder umgekehrt. Er kann auch zwischen den Kapiteln oder sogar innerhalb von Absätzen oder Sätzen wechseln. Die Entscheidung, welchen Weg er einschlagen möchte, ist ein persönlicher und wird dem Leser konstant abverlangt. Dadurch setzt er sich auf einer zusätzlichen Ebene mit dem Roman auseinander als es in einer linear erzählten Geschichte geschehen würde. Dies wird zumindest suggeriert....

Ob sich wirklich je nach individuellem Vorgehen eine andere Lesart ergibt wie es das Vorwort impliziert, mag angezweifelt werden. Es wirkt eher wie ein Verkaufsargument für den geneigten Käufer. Jede Geschichte folgt ihrem eigenen Verlauf. Was soll es für einen maßgeblichen Unterschied machen, ob erst der eine und dann der andere Abschnitt gelesen wird oder umgekehrt? Der einzige Unterschied ist, wann der Leser Kenntnis von etwas erhält. Erhält er eine Information durch Wechslers Perspektive, die danach Zichronis Erzählung in einem anderen Licht erscheinen läßt? Oder rückt Zichroni vielleicht etwas zurecht, was Wechsler berichtet hat? Verschiedene Lesarten ergeben sich daraus noch lange nicht. Denn beide Perspektiven existieren über weite Teile recht unabhängig voneinander. Anknüpfungspunkte sind rar. Erst zum Ende hin werden die lange geahnten Verknüpfungen wirklich wahrnehmbar, relevant und vorallem interessant.

Leider wird eine sehr hohe Erwartung bezüglich des selbstgewählten Leseablaufs aufgebaut. So wird ständig ein Überraschungseffekt erwartet, der nicht eintritt. Kritisch gesagt, könnte es sich um Effekthascherei handeln. Wohlwollender könnte man sagen, es ist ein Angebot an den Leser, Eigenverantwortung zu übernehmen. Eine interessante Idee ist es allemal.

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Erinnerung und Identität sind die zentralen Themen des Romans. Beide werden in Bezug gesetzt zum Jüdischsein. Wechsler und Zichronie repräsentieren zwei mögliche Weisen, den jüdischen Glauben zu leben. Es geht um ihre jüdische Identität und insbesondere um das Leben in der Diaspora. Mit Minsky wird die Frage gestellt, inwieweit der Holocaust identitätsstiftend sein kann. Der Leser erfährt viel über die Riten und Bestandteile des Judentums. Auch ein Glossar findet sich am Ende jedes Handlungsstrangs.

Die Erinnerungen eines Menschen sind maßgeblich für seine Identität. Er ist die Summe seiner Erlebnisse und wie er sie wahrnimmt und deutet, sich ihrer erinnert, bestimmt sein zukünftiges Tun. Doch Erinnerungen sind wandelbar. Keinesfalls sind es objektive sondern individuelle Wahrnehmungen. Ein Erlebnis kann in der Erinnerung verschiedener Personen ebenso viele Versionen annehmen. Das macht Erinnerungen zu einem sehr trügerischen Phänomen. Dies soll wohl auch die Idee des individuellen Lesevorgehens widerspiegeln. So viele Leser es gibt, so viele Lesarten existieren auch.

Jan Wechslers Geschichte läßt an Franz Kafkas Der Prozess denken. Etwas geschieht mit ihm, wofür er keine Erklärung finden kann. Hilflos scheint er einer fremden Macht ausgeliefert zu sein. Er hat einen Roman verfasst, der seine Familiengeschichte verarbeitet. Doch es ist fraglich, ob er seine Familienhistorie nicht aus dem gebastelt hat, was der Roman beschreibt. Möglicherweise hat er seine eigenen Erinnerungen ersetzt und sich damit eine neue Identität erschaffen. Irgendwann ist der Leser nicht mehr sicher, ob Jan Wechsler die Realität wiedergibt, wenn er aus seinem Leben berichtet.

Minskys falsche Erinnerungen sind zu seiner Realität geworden. Als sie ihm duch Wechsler genommen werden, ist er haltlos. Hier stellt sich die Frage, ob falsche Erinnerungen besser sind als keine.

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Benjamin Stein stellt in Die Leinwand zweifelsohne wichtige und spannende Fragen. Diese können den Leser durchaus noch nach der Lektüre beschäftigen.

Die Umsetzung ist hingegen mäßig fesselnd. Wechslers Geschichte setzt unverzüglich mit der Zustellung des Pilotenkoffers ein, so dass der Leser gleich mit der Frage geködert wird, was es damit auf sich hat. Doch Zichronis Erzählung dümpelt recht lange vor sich hin bevor etwas wirklich Interessantes angesprochen wird. Auch später gibt es immer wieder langatmige Passagen. Dadurch steht man mitunter vor der Entscheidung, ob man überhaupt weiterlesen möchte.

Insgesamt bleibt das Gefühl, dass es mehrere Ebenen innerhalb des Romans gibt, die sich jedoch nur schwierig bzw. gar nicht erschließen lassen. Und so bleibt der Zweifel, ob sie nur angedeutet werden oder tatsächlich vorhanden sind. Möglicherweise erschließen sich manche Lesarten und Ebenen erst, wenn man sich besser im Judentum auskennt.

Leider hat der Roman die an ihn gestellten Erwartungen, die z.B. durch den individuell zu gestaltenden Leseweg geschürt wurden, nicht erfüllen. Es geht bei einem guten Roman eben nicht nur um die formelle Gestalt und die behandelten Fragen, sondern auch um ihre ansprechende und spannende Vermittlung. Diese soll durchaus anspruchsvoll sein, sollte das Interesse des Lesers aber stetig wachhalten.


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