Cover des Buches Ellbogen (ISBN: 9783446255951)
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Rezension zu Ellbogen von Fatma Aydemir

"Vielleicht macht uns das Leben wütend." (S. 202)

von leselea vor 7 Jahren

Kurzmeinung: Hier kommt Hazal: Wütend, frech und voller Angst. Eine Antiheldin, die dem Leser ans Herz wächst und ihn mit ihrer Geschichte mitreißt.

Rezension

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leseleavor 7 Jahren

Ich habe Angst, dass ich für immer auf der Ersatzbank rumsitze und auf das richtige Leben warte und das richtige Leben einfach nicht passiert. (S. 65)

Hazal ist ängstlich: Sie hat Angst, das wahre Leben zu verpassen, nie ihren Platz in der Welt zu finden und für das bisschen Glück, das jedem Erdenbürger zusteht, schon zu spät dran zu sein. Aber Hazal ist auch lustlos: Statt die berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme zu nutzen und sich für einen Ausbildungsplatz reinzuhängen, jobbt sie lieber nebenbei bei ihrem Onkel und kifft sich nach Feierabend mit ihren Freunden die Birne zu. Vor allem ist Hazal aber wütend: Auf all die blonden Ärztetöchter, die schon immer auf sie, die Kanakin herabgeblickt haben, auf die Türsteher, die sie nicht in die angesagten Club lassen und auf ihre Eltern, die ihr kein bisschen Freiheit schenken, obwohl sie doch schon so gut wie 18 ist. Angst, Antriebslosigkeit und Wut erzeugen eine unheilvolle Dynamik und führen Hazal schließlich an einen Punkt, an dem sie nur noch zwischen Flucht und Gefängnis wählen kann. Sie entscheidet sich für ersteres und landet in Istanbul, eine Stadt, die für sie Sehnsucht bedeutet, obwohl sie sie überhaupt nicht kennt…

Weil solche Typen herumrennen und meinen, die Welt gehört ihnen. Weil die sich aufführen, wie sie wollen, wie die nie um irgendetwas kämpfen mussten. Und weil wir mit hängenden Schultern wie so Opfer herumlaufen, obwohl wir wahrscheinlich zehnmal mehr wissen über das Scheißleben als diese Kartoffeln. (S. 244)

Fatma Aydemirs Debütroman Ellbogen wurde im Feuilleton überwiegend positiv aufgenommen: Endlich gebe eine Autorin „den türkischen Neukölln-Mädchen […] eine literarische Stimme“ (Literatur-SPIEGEL), er sei die Antwort auf Maxim Billers Kritik, „[e]s fehle der Literatur an lebendigen Stimmen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern mit Migrationshintergrund“ (NDR Kultur). Und tatsächlich ist Ellbogen ein lauter und lebendiger Roman, in dem die Protagonistin Hazal, sich durch die abgehängten Viertel Berlins kämpfend, ihre Träume und Enttäuschungen in die Welt rausschreit. An Hazal, an ihrem Leben mit einem jüngerem, kriminellen Bruder, der dennoch als Stammhalter verhätschelt wird, und mit Eltern, die nie wirklich in Deutschland angekommen sind und stattdessen Erdogan im türkischen Fernsehen begeistert zurufen sowie an ihren Freudinnen Ebru, Gül und Emra, die die Heimatländer ihrer Eltern nur aus dem Urlaub kennen und in Deutschland vor verschlossenen Türen stehen, entfaltet die Autorin die ganze Debatte um „Migrationshintergründe“, „Parallelgesellschaften“, „das Leben zwischen den Kulturen“ und „Integrationspolitik“. Dies tut sie jedoch nicht plakativ, sondern zwischen den Zeilen und beinahe nebenbei. Denn es ist einfach Hazals Leben, das hier erzählt wird und das mit diesen großen Themen der Politik verschränkt ist, ohne dass Hazal selber dies so formulieren würde.

Im Gegenteil: Solche Begriffe kann man sich bei der rotzigen, frechen, manchmal bösen Hazal überhaupt nicht vorstellen. Die Protagonistin in Aydemirs Ellbogen redet nämlich, wie ihr der Schnabel gewachsen ist – und ihr sind Wörter wie „Muschi“, „Schwanz“ und „verfickt“ einfach näher statt hochgegriffene politische Wörter. Das ist vulgär, das klingt brutal und manchmal ist es auch zu nahe am Klischee der prolligen Türkin dran. Dennoch entwickelt dieser umgangssprachliche Ton einen eigenen Sound, der die Geschichte über viele Strecken trägt und sehr zu ihrer Authentizität beiträgt. Man kann lachen mit Hazal (und manchmal auch über sie), auch wenn es ein Lachen ist, das häufig im Halse stecken bleibt, verbirgt sich hinter ihren schoddrigen Sprüchen doch häufig Trauer und Wut über ein Leben, das in enge Grenzen gefasst ist, und aus dem man – teils sicherlich aus Selbstverschuldung – nicht entfliehen kann. Hazal ist die Antiheldin, die sich selbst mehr als einmal im Weg steht, die man als Leser schütteln möchte und die einem doch Seite um Seite mehr ans Herz wächst und einen mitreißt mit ihrer Geschichte voller falschen Entscheidungen und schlechten Startbedingungen.

Ellbogen ist ein dynamisches, rasantes Buch, ohne Stillstand, aber auch ohne Ankommen. Es ist ein Buch, das wichtige Fragen stellt, sich mit eindeutigen und damit wohl auch vereinfachenden Antworten zurückhält. Es ist politisch, ohne den Zeigefinger zu heben und Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Es ist vielleicht nicht ganz rund (der Teil in Istanbul will mit der Darstellung der aktuellen Situation unter Erdogan zu viel, ohne dabei der eigentlichen Geschichte dienlich zu sein), manchmal auch zu sehr das, was man lesen möchte, über die Abgehängten in Deutschlands Hauptstadt. Insgesamt ist Ellbogen jedoch ein ausgezeichnetes Debüt, das einen als Leser abholt, in die Geschichte reinzieht und einen – trotz aller Brutalität und Ausweglosigkeit – an Hazals Seiten bleiben lässt. Dafür 4 Sterne und eine Leseempfehlung!

Ich verstehe nur endlich, wie die Sache läuft, ich verstehe, dass die Welt scheißungerecht ist und dass sie anders besser wäre, aber anders wird sie nie werden. (S. 250)

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