Cover des Buches Was bleibt von uns (ISBN: 9783312010899)
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Rezension zu Was bleibt von uns von Golnaz Hashemzadeh Bonde

Einfach nur großartig

von KirstenWilczek vor 6 Jahren

Kurzmeinung: Mich hat lange kein Buch mehr so ergriffen. Da trifft jeder Satz ins Schwarze. Es hat mich schier umgehauen. Und das passiert eher selten.

Rezension

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KirstenWilczekvor 6 Jahren

Die Welt mit anderen Augen sehen - für mich Anspruch und Verdienst der Literatur. Dem Anspruch genügt „Was bleibt von uns“ von Golnaz Hashemzadeh Bonde in nachgerade vorbildlicher Weise. Den Mehrwert dieses großartigen Romans habe ich als Leserin sehr dankbar, aber nicht minder beschämt eingestrichen.

Was ist das Großartige an diesem Werk?

Golnaz Hashemzadeh Bonde hat eine Geschichte zu erzählen, die mit ihr zu tun hat, mit ihrem Leben, ihrer Herkunft. Diese Geschichte ist von existenzieller Dringlichkeit. Sie muss unter ihrer Last erzählt werden. Sie entfaltet eine Wucht, die ergreifend ist.

Sie erzählt von Geflüchteten und ihrer Rettung, die auch ihre Verkehrung ins Gegenteil, die Verdammnis, in sich birgt: die eigene Verdammnis, weil man Menschen, die man liebt, zurückließ; die Verdammnis der anderen, die sich zurückgelassen fühlen, und schließlich derer, die ihre Heimat mit den Neuankömmlingen nicht teilen wollen und deswegen ihr Befremden in Worten oder Taten adressieren.

Es ist die Geschichte von Nahid, einer Iranerin, die als erste Frau in ihrer Familie Medizin studieren kann. Dann kommt Ruhollah Musawi Chomeini aus dem Pariser Exil zurück. Die Islamische Revolution beendet das Regime des Schahs Reza Pahlavi. Die Studenten, unter ihnen auch Nahid und der Marxist Masood, ihr Freund, demonstrieren gegen den Ajatollah. Tausende werden verfolgt, gefoltert und getötet. Unter den Toten sind ihre Freunde. Unter den Vermissten ist Nahids Schwester Noora, die sie unbedingt zu einer Demonstration begleiten, und die Nahid nicht abhalten wollte. Die Vierzehnjährige bleibt spurlos verschwunden – eine Schuld, die Nahid sich nie vergeben wird. Nahid und Massod heiraten. Doch einen Weg zurück in die Normalität gibt es nicht. Die Verfolgungen gehen weiter. Sie tauchen ab und leben mit ihrer kleinen Tochter Aram im Untergrund. Als die Maschen immer enger werden und die Entdeckung droht, fliehen sie mit gefälschten Pässen nach Schweden. Dort leben sie in einer Flüchtlingsunterkunft, später in einem sozialen Brennpunkt, aus dem sie herauswollen. Sie arbeiten und arbeiten, Nahid als Krankenschwester und Altenpflegerin, und schaffen es. Die Familie erwirbt ein Reihenhäuschen in gutbürgerlicher Lage.

„Was bleibt von uns“ ist die Geschichte einer glücklichen Integration, könnte man meinen. Doch das ist sie nicht. Nahid hat in Schweden nicht ihre Heimat gefunden, aber der Krebs in ihr seine. Sie kämpft dagegen an und erzählt am Ende ihre Geschichte ein paar Blättern Papier. Die eigentliche Adressatin ist Aram. Nahid gelingt es nicht, mit ihrer Tochter über all das zu sprechen, was sie zu der hat werden lassen, die sie ist: eine desillusionierte, reflektierte Frau, hart im Nehmen, auch im Hinnehmen der Schläge ihres Mannes, von dem sie geschieden wird und der inzwischen verstorben ist. Immer wieder enden Gespräche mit Vorwürfen der Mutter an die Tochter, die von ihrem schwedischen Lebensgefährten Johan selbst eine Tochter erwartet. Es ist ein schwieriges Verhältnis zwischen beiden. Nahid wünscht die Nähe ihrer Tochter, stößt sie aber immer wieder ab. Die Rückschau Nahids ist so entwaffnend ehrlich, so präzise, dass man es kaum aushält. Sie ist auch voller Poesie, dass man am Ende um diesen Menschen trauert, weil er einen so nahekommen lässt.

Bemerkenswert ist die Gabe der jungen Autorin so glasklar auf den Punkt zu formulieren, dass man sich an der Schliffkante schneiden kann. Noch beeindruckender ist ihre Fähigkeit und Empathie, Nahids Weg durch alle Phasen der Erkrankung in den Strebeprozess ohne jeden melodramatischen Schwulst zu beschreiben. Trotz all der Schwere der verhandelten Themen schließt der Roman dennoch nicht hoffnungslos: „Sie würden unsere Lieder singen, unsere Lieder würden nie aussterben.“

Wieso beschämte mich die Lektüre?

Es sind Sätze wie diese:

„Ich denke an die großen Bäume draußen auf der Insel. Ich denke, dass mein Enkelkind nicht wie ich werden wird. Sie wird ein Kind von Wurzeln sein, nicht von Sand. Sie darf dort leben, wo sie geboren wird. Mit tief in die Erde reichenden Wurzeln. Ich denke, dass ich das geschaffen habe. Ich habe dafür gesorgt, dass meine Enkelin sowohl Freiheit wie Wurzeln haben kann. Meine Flucht hat das ermöglicht.“

Was wissen wir schon, wir, die wir Wurzeln schlagen durften? Wir könnten wissen, wenn wir wollten. Ich weiß jetzt: Ich bin ein Baum. Neben mir ist Platz für andere. Zusammen sind wir ein Wald. Ein mächtiger Wald, ein Lebens- und Schutzraum.

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