Cover des Buches Erinnerung an einen schmutzigen Engel (ISBN: 9783423215251)
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Rezension zu Erinnerung an einen schmutzigen Engel von Henning Mankell

Erzählt von einem ungewöhnlichen Frauenschicksal

von WinfriedStanzick vor 10 Jahren

Rezension

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WinfriedStanzickvor 10 Jahren


Manchmal ist es nur ein kleiner Hinweis, eine Nebenbemerkung, eine flüchtige Beobachtung, die einen Schriftsteller zu seinem nächsten Romanstoff führt. Bei Henning Mankell war es ein Hinweis seines Schriftstellerkollegen und Afrikafreunds Tor Sällström. Er sei in dem alten kolonialen Archiv von Maputo auf bemerkenswerte Dokumente gestoßen, denen er entnommen habe, dass Ende des 19. Jahrhunderts eine Schwedin Besitzerin eines der größten Bordelle der Stadt gewesen sei, die damals noch Lourenco Marques hieß. Sie fand in den Dokumenten Erwähnung, weil die über mehrere Jahre eine bedeutende Steuerzahlerin gewesen ist. Sie sei ebenso plötzlich dort aufgetaucht, wie sie einige Jahre später wieder spurlos verschwunden sie. "Wer war Sie? Woher kam Sie?" Diesen Fragen ist Henning Mankell weiter gefolgt, hat aber nur wenig mehr herausgefunden, als das, was in den Dokumenten stand. "Meine Geschichte gründet sich also auf das wenige, was wir wissen, und all das, was wir nicht wissen."

Und so erzählt er die Geschichte von Hanna Renström, die als älteste von fünf Geschwistern nach dem Tod ihres Vaters ihr Elternhaus in Nordschweden verlässt, weil die Mutter nicht mehr alle allein ernähren kann. Dieser Vater hatte Hanna mit einer Stimme, die gegen Ende seines Lebens nur noch ein Flüstern war, liebevoll einen 'schmutzigen Engel' genannt, Worte, die sie lange begleiten und an die sie sich in der Folgezeit immer wieder erinnern wird.

Ihre Mutter Elin schickt sie auf dem Schlitten von Jonathan Forsmann auf den fünftägigen Weg nach Sundsvall, wo noch lebende Verwandte vermutet werden. Dort soll sie versuchen, als Dienstmagd ihr eigenes Auskommen zu finden. Forsmann, bekehrter Christ, kümmert sich väterlich streng um Hanna. In Sundsvall an der Küste angekommen, schickt er Hannah mit einem Knecht auf die Suche nach diesen Verwandten, die jedoch erfolglos bleibt. Forsmann ist Teilhaber an einem Dampfschiff mit dem Namen Lovisa. Als dieses von Schweden aus mit Holz beladen nach Australien aufbrechen soll, verpflichtet er Hannah, dort als Köchin mit zu fahren, um wichtige Lebenserfahrungen zu sammeln.

Auf dem Schiff kommt sie bald sehr gut zurecht, und freundet sich mit dem Steuermann Lars Johan Jakob Antonius Lundmark an. Die Wochen, die sie mit ihm auf der Fahrt verbringt, werden die schönsten ihres Lebens sein. Auf einem Zwischenstopp heiraten sie. Doch nur wenige Wochen später erkrankt Lundmark nach einem leichtsinnigen Landaufenthalt an einem tödlichen tropischen Fieber. Mit seiner Seebestattung beginnt das Buch, das in der Folge erzählt von der Trauer von Hanna, die nach wenigen Wochen schon zur Witwe geworden ist. Obwohl Kapitän und Mannschaft sie sehr zuvorkommend behandeln, spürt sie, dass sie das Schiff verlassen muss, soll ihre Trauer sie nicht umbringen.

In Lourenco Marques verlässt sie, ausgestattet mit den fünfzig Pfund Witwenrente, die ihr der Kapitän ausgezahlt hat, heimlich das Schiff. Sie logiert sich in einem Hotel ein, von dem sie bald merkt, dass es als ein Bordell geführt wird. In der ersten Nacht in diesem Hotel beginnt sie zu bluten. Sie hat das Kind von Lundmark, ihrer ersten großen Liebe verloren. Eine der Prostituierten, Felicia, kümmert sich um sie. Auch Senhor Vaz, der Besitzer des Hotels, ist um Hanna besorgt und organisiert eine professionelle Krankenschwester.

Nach einigen Wochen hat sich Hanna soweit erholt, dass sie in der Lage ist, ihre Umgebung richtig wahrzunehmen und auch, dass das Interesse von Senhor Vaz an ihr stärker ist als üblich. Und es dauert nicht lange, da macht er ihr einen Heiratsantrag, den sie nach einigen Tagen des Überlegens annimmt. Doch auch diese Ehe, zu deren vollem Vollzug sich Vaz nicht im Stande zeigt, ist nur von kurzer Lebensdauer. Er stirbt, nachdem er ein weiteres Mal vergeblich versucht hatte, Hanna beizuwohnen.

Zurück bleibt Hanna, mit einem Schimpansen namens Carlos, der als Kellner verkleidet, in dem Bordell die Kunden bedient, und einem großen Erbe. Denn Vaz hat ihr nicht nur das Bordell, sondern auch ein riesiges Vermögen vermacht.

Das Buch erzählt nun, wie sich Hanna durchsetzt in einer Gesellschaft, die von Kolonialismus und Rassismus geprägt ist. Es erzählt davon, wie sie konfrontiert wird, mit einer bespiellosen Unterdrückung der Schwarzen durch die weißen Herren. Wie sie ganz langsam ein Bewusstsein gewinnt von dieser Ungerechtigkeit und auch öffentlich dazu Stellung nimmt.

In ihrem Einsatz für eine schwarze Frau, die sie kennengelernt hat, begegnet sie eines Tages deren Bruder Moses. Zu ihm entwickelt sie eine zarte Liebesgeschichte, deren Ausgang offen bleibt. Offen bleibt auch, ob das ersehnte, aber eigentlich unmögliche gemeinsame Leben mit Moses der Grund ist für ihr spurloses Verschwinden. Es ist wohl vor allem die Begegnung mit Moses, die langsam eine tiefe Erkenntnis in ihr wachsen lässt:
"Ich lebe in einer Welt, in der die Weißen ihre Kräfte dabei vergeuden, sich selbst und die Schwarzen zu betrügen, dachte sie. Sie glauben, die schwarzen Menschen hier würden ohne ihre Anwesenheit nicht zurechtkommen und ihr Leben sei weniger wert, weil sie glauben, dass Steine und Bäume Geister beherbergen. Aber die Schwarzen ihrerseits verstehen nicht, wie man einen Sohn Gottes so schlecht behandeln kann, dass man ihn an ein Kreuz nagelt. Sie wundern sich über die Weißen, die hierher kommen und es so eilig haben, dass sie bald der Herzschlag trifft, weil sie die Jagd auf Reichtum und Macht nicht verkraften. Die Weißen lieben das Leben nicht. Sie lieben die Zeit, von der sie immer zu wenig haben."

Ich halte diese Reflexionen Hannas für das Zentrum eines Buches, mit dem Henning Mankell nicht nur seinem beeindruckenden Werk einen weiteren Afrikaroman hinzufügt, sondern mit der dem auch in der Gestalt Hannas ein wichtiges Porträt zeichnet einer Frau, die ihrer Zeit weit voraus war.

Obwohl es ein historischer Roman ist, ist seine Botschaft sehr aktuell. Er beschreibt sehr überzeugend das Verhältnis von Unterdrückern und Unterdrückten als eines von gegenseitiger Angst, die sie beide wie in einem Käfig gefangen hält. Und er zeigt auch hoffnungsvolle Wege, wie die unüberwindlich geglaubten Barrieren zwischen "Uns und den Anderen" überwunden werden können.

Aus einer kleinen Notiz in einem historischen Dokument hat Henning Mankell einen großen Roman gemacht, der erzählt von einem ungewöhnlichen Frauenschicksal und den nach wie vor ungelösten Fragen von rassistischer Unterdrückung und menschenfeindlicher Ungerechtigkeit.

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