Cover des Buches Lautlose Stufen (ISBN: 9783940078391)
Rezension zu Lautlose Stufen von Inge Becher

Laut sagen, was verschwiegen wurde

von Ein LovelyBooks-Nutzer vor 8 Jahren

Kurzmeinung: Kaum beachtetes Thema großartig aufgearbeitet.

Rezension

Ein LovelyBooks-Nutzervor 8 Jahren
An ihrem 10. Geburtstag ist Hella ein Kind wie jedes andere auch in den 1930er Jahren. Sie freut sich, bald zu den Jungmädeln zu kommen und mit ihren Freundinnen Abenteuer zu erleben. Doch kurz darauf erkrankt sie auf rätselhafte Weise, muss für lange Zeit ins Krankenhaus, ohne dass die Ärzte herausfinden können, was ihr fehlt.
Hella kann nicht mehr zur Schule gehen, ihre Freundinnen kapseln sich von ihr ab und das Leben scheint nur so an ihr vorbeizugehen.
Vier Jahre später erfährt Hella von besonderen Kliniken, in denen schwerkranken Kindern geholfen werden kann und sie hofft, dorthin überwiesen zu werden. Ihre Eltern und ihr Hausarzt sind über diesen Wunsch jedoch entsetzt. Denn aus den vermeintlichen Wunderkliniken ist noch kein Kind lebend zurückgekehrt.
Wieder so ein Kriegs- und NS-Zeit-Buch könnte man denken. Und tatsächlich erweckt Lautlose Stufen zunächst den Anschein eines der Bücher zu werden, in denen die Schrecken der Nazi-Diktatur jungen Lesern veranschaulicht werden soll.
Aber Inge Becher bringt in ihrem Roman ein bisher wenig beachtetes Thema zur Sprache. Das Streben der Nazis nach einer gesunden Rasse, die durch die Ausmerzung kranken Lebens auf perfide Weise perfektioniert werden sollte. Behinderte und Kranke wurden in Spezialkliniken vermeintlich behandelt, fielen aber früher oder später dem "Euthanasie"-Gedanken zum Opfer. Den Angehörigen wurde brieflich berichtet, die Kinder seien leider an einer Lungenentzündung verstorben.
Auch Hella, die Protagonistin des Romans, landet schließlich auf einer der Listen sogenannten "unwerten Lebens" und soll in eine solche Spezialkinderklinik überwiesen werden. Hella ahnt nichts von den Methoden dieser Kliniken, nur ihr Hausarzt und ihre Eltern hegen einen Verdacht und sind entsprechend entsetzt.
Die Autorin schildert in leicht zugänglichen und sehr eindrücklichen Bildern, wie die kränkelnde Hella sich im immer enger werden Netz der Diktatur entwickelt und welchen Gefahren und Ausgrenzungen sie ausgesetzt ist.
So wie ihre Brüder Mitglieder in der Hitlerjugend sind, will sie genauso dazugehören, zusammen mit ihren Schulfreundinnen. Doch bedingt durch ihre Krankheit, die sie immer wieder ans Bett fesselt, hat sie keine Gelegenheit zu den Treffen, Aufmärschen und Versammlungen zu kommen und wird so schnell zur Außenseiterin. Der Schule wird sie verwiesen, weil sie ihre Mitschüler beim Lernen aufhalte. Hella wird in die Isolation getrieben. Erst als ihre Tante ihr eine Nähmaschine bringt, blüht Hella wieder ein wenig auf. Sie beginnt zu Nähen und bekommt kleinere Aufträge aus der Klinik, alte Kleidung umzunähen.
Hier fügt Inge Becher dezent Hinweise auf die Judenverfolgung ein. Die Kleidung, die Hella umnäht, stammt zum größten Teil aus dem Besitz enteigneter und verschleppter Juden. Diese kurzen Hinweise, die nicht weiter großartig thematisiert werden, zeigen sehr gut, wie das Denken der damaligen Gesellschaft war. Manche wussten wohl tatsächlich nicht, was um sie herum geschah, Inge Becher zeigt aber deutlich auf, dass es oftmals auch eine Frage dessen war, was man sehen und verstehen wollte.

Lautlose Stufen zeichnet sich durch typische Charaktere dieser Art von Roman aus. Es gibt den cholerischen Lehrer, die linientreuen Parteimitglieder, die Bürger, die sich der Einfachheit halber anpassen und Geschehnisse nicht weiter hinterfragen, sowie die wenigen Menschen, die Hitler kritisch gegenüber stehen und sich durch Kleinigkeiten bemühen, sich von der Masse abzusetzen und ihren moralischen Vorstellungen treu zu bleiben.
Um jede Gruppe glaubwürdig zu zeichnen, benötigt die Autorin nur wenig Worte. Sie lässt die einzelnen Typen durch ihre Handlungen sprechen und fügt nur selten wertende Gedanken durch Hella ein.
Jedes Kapitel beginnt die Autorin mit einer kurzen historischen Einführung, die nur wenige Sätze umfasst und sich typographisch von der Geschichte absetzt. Dies hilft Lesern, die das nötige historische Wissen nicht haben, die Geschehnisse im entsprechenden Rahmen zu sehen. Für alle anderen ist es eine Einführung auf das jeweilige Kapitel, die aber auch überlesen werden kann. Ein wenig schade ist, dass in diesen Texten hin und wieder irritierende Tempuswechsel auftauchen, die sich nicht schön lesen lassen.

Mit seinen 106 Seiten ist Lautlose Stufen insgesamt aber ein durchaus überzeugender Roman, der aufgrund seiner Kürze sicherlich auch Jugendliche ansprechen wird, die nicht so lesebegeistert sind. Auch ein Einsatz als Unterrichtslektüre ist für Inge Bechers Debüt gut vorstellbar. Eine Geschichte, die mit ihrer Thematik definitiv Aufmerksamkeit verdient und gleichzeitig neugierig macht auf mögliche weitere Romane der Autorin.
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