Cover des Buches Hillbilly-Elegie (ISBN: 9783550050084)
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Rezension zu Hillbilly-Elegie von J. D. Vance

Dreifaltige Hölle

von jamal_tuschick vor 7 Jahren

Kurzmeinung: Wichtiges Buch - Die „Hillbilly-Elegie“ antwortet auf Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“

Rezension

J
jamal_tuschickvor 7 Jahren
Sixteen Tons
Some people say a man is made out of mud
A poor man's made out of muscle and blood
Muscle and blood and skin and bones
A mind that's weak and a back that's strong

You load sixteen tons what do you get
Another day older and deeper in debt
Saint Peter don't you call me 'cause I can't go
I owe my soul to the company store

I was born one morning when the sun didn't shine
I picked up my shovel and I walked to the mine ...

Die Liebhaber der Mutter belehren ihn über sein fadenscheiniges Wesen. Zur Not heuchelt er. Für einen alkoholhaltigen Tropfen Anerkennung täuscht J.D. Interesse an Ohrringen, Polizeiautos und Kindern vor, je nachdem, was die Kumpanei mit den Steves, Chips und Kens, die seiner Mutter gerade gefallen, verlangt. Die Frau führt das Leben der Trailerparknomaden. Ständig muss das Kind sich neu einfinden und anpassen. Es wehrt sich gegen Zumutungen, indem es als Heimat verwirft, was die Mutter in ihrem eigenen Protest dafür nimmt. Unumstößliche Zugehörigkeit behauptet es zum Mountainmilieu der Großeltern in Jackson/Breathitt County/Kentucky. In der Wahrnehmung des Heranwachsenden sind Oma und Opa hagestolze Leute, unerschütterlich, bedürfnislos, hilfs- und gewaltbereit auf explosive Weise. In ihrer Obhut gewinnt J.D. eine Identität aus Bruchstücken und Klischees rund um Bergbautristesse, legendäre Familienfehden und weiße Armut in den Appalachen. Im Breathitt County wurden Arbeiter zur Wiederherstellung der Ordnung zusammengeschossen. “State troops were dispatched twice in the 1870s and again in 1903 – after the assassination of U.S. Commissioner James B. Marcum on the courthouse steps – to restore order.” Zitiert nach Wikipedia.
Unbewusst verzichtet der Junge auf Welt. Wenigstens in der Geburtsstadt seiner Großeltern will er randlos dazu gehören. Er verherrlicht eine Armee autarker Großonkel als Garanten biblischer Rechtsbegriffe und Bewahrer konföderierter Traditionen. Die taffen Tattergreise ersetzen im Verein mit der alle überstrahlenden Oma den inexistenten Vater, der auch für die Mutter kaum mehr bedeutet haben dürfte als jeder andere Steve, Chip oder Ken.
Der Autor beglaubigt mit solchen Schilderungen sich selbst als Erben. Er beschwört seine Zuständigkeit für das arme weiße Amerika, zumal in der iroschottischen Variante. Übrigens war es eine iroschottische Missionsbewegung, die ab dem 6. Jahrhundert Mitteleuropa christianisierte. Nun vergleicht Vence die Omaära mit einer erbärmlichen Gegenwart. Die vordem auf ihre Selbständigkeit bedachten, wohlfahrtsabholden Hinterwäldler versinken in Lethargie. Jackson sei von Methamphetamin verseucht, behauptet Vence. Er vermutet die Schuld für den Niedergang nicht jenseits der Eigenverantwortung. Er interpretiert die Verwerfungen nicht als Folgen staatlicher Vernachlässigung vor sich hin rostender Regionen und desaströser Rahmenbedingungen. Es gibt kein Recht auf Hilfe. Auch Vence spielt das Lied vom selbstgeschmiedeten Glück im Moll einer Küchensoziologie, die lediglich vorgibt, dem Verständnis für Verlierer Argumente zu liefern. Die Großeltern hatten sich in den Sechzigern den Torturen der Flexibilität ausgesetzt und waren in den Norden gezogen. Zwar erreichten sie finanziell die Margen des Mittelstandes, doch scheiterten sie mit ihrem phantasmagorisch-eruptiven Lebensstil an urbanen Normen. Sie gingen durch die dreifaltige Hölle Ausgrenzung, Alkoholismus und häusliche Gewalt, wobei Oma wacker mithielt. Einmal zündete sie ihren Mann an. Schließlich kehrte das Paar nach Jackson zurück und widmete sich dem Nachwuchs seiner im permanenten Ehekrach taub gewordenen Kinder. „Und sie verbrachten den Rest ihres Lebens damit ... Fehler wiedergutzumachen.”
Vence wähnt die armen Weißen im Abseits jedweder politischer Repräsentanz. Ihre reaktionäre Grundierung entbehrt der Vernunft. Abgehängt seit Generationen ergeben sich für sie (in der Mittelstandsperspektive) deviante Muster, für die es keine weiße, wohl aber schwarze Referenzen gibt.
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