Cover des Buches Digitale Demenz (ISBN: 9783426276037)
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Rezension zu Digitale Demenz von Manfred Spitzer

Die Herausforderung der digitalen Welt annehmen

von PhilippWehrli vor 7 Jahren

Kurzmeinung: Eine Pflichtlektüre für alle, die mit Kindern oder Jugendlichen zu tun haben, für alle Eltern, Lehrer, Erzieher und Bildungspolitiker.

Rezension

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PhilippWehrlivor 7 Jahren
Wir leben in der Zeit der Digitalisierung. Damit müssen sich Schule und Erzieher auseinander setzen. Die Frage ist: Was brauchen Kinder und Jugendliche heute? – Die Antworten des Bildungsforschers, Neurologen und Psychiaters Manfred Spitzer ist klar. Und sie steht diametral entgegen zu dem, was in der Schule tatsächlich passiert und was unbedarfte Politiker fordern. In den USA und in Deutschland verbrachten Neuntklässler 2009 7,5 Stunden täglich mit digitalen Medien, mehr Zeit als mit Schlafen. Tendenz steigend. Das Nutzen von Handys und MP3-Playern ist dabei noch nicht mitberücksichtigt.

Aus Sicht der Gehirnentwicklung ist offensichtlich, dass digitale Medien für die Entwicklung des Kindes verheerend sind. Beim Lernen bildet das Gehirn Netzwerke aus. Angenommen, ein Baby hört einen Ball hüpfen. Es wendet reflexartig den Kopf so, dass es den Ball sehen kann. Es hat ein Erfolgserlebnis, weil es den Ball tatsächlich da sieht. Es verknüpft Körperbewegung, Klang und Bild des Balles mit diesem Erfolgserlebnis. Es beobachtet, wie der Ball immer kleinere Sprünge macht, schliesslich rollt. Es streckt den Arm aus, ergreift den Ball, spürt den runden Ball aus Gummi, hat ein weiteres Erfolgserlebnis, führt den Ball zum Mund, schmeckt den Geschmack des Gummis. So hat es nach einer kurzen Sequenz ein Netzwerk aus Bild, Klang, Gefühl und Geschmack eines Balles, von verschiedenen erfolgreichen Körperbewegungen. Auf diesem Netzwerk kann es aufbauen.

Was geschieht, wenn das gleiche Kind, den hüpfenden Ball am Fernsehen sieht? – Das Kind hört den Ball hüpfen und wendet den Kopf – zum Lautsprecher. Der Lautsprecher hüpft nicht. Am Bildschirm sieht das Baby zwar den hüpfenden Ball. Dieser hüpft aber am Ort, während sich eigenartigerweise der Hintergrund bewegt. Könnte der Hintergrund mit dem Hüpfgeräusch zusammen hängen? - Das Baby ist frustriert, weil dies keinen Sinn ergibt. Eine Körperbewegung führt nicht zu einem Erfolg, weil der Bildschirm am Ort bleibt. Der Ball im Fernsehen fühlt sich nicht nach Ball an, man kann ihn nicht in den Mund nehmen und da ist auch kein Gummigeschmack. Der Ball im Bildschirm ist gar kein Ball. Nichts passt zusammen. Es bleibt der Frust.

Tragischer Weise ist es nun keineswegs so, dass das Fernsehkind einfach ein bisschen langsamer oder ein bisschen später lernt. Vielmehr sind gewisse Lernschritte überhaupt nur noch sehr eingeschränkt möglich. Das liegt daran, dass für gewisse Lernbereiche nur während beschränkter Zeit ein ‚Lernfenster’ offen steht. Bei kleinen Kindern verbinden sich Neuronen-Gruppen rasch und über grössere Distanzen. Wenn also ein Kind einen realen Ball sieht, werden Seh-, Hör-, Tast-, Bewegungs- und Geschmackssinn auf sinnvolle Weise miteinander verbunden. Bereits im Alter von etwa drei Jahren müssen diese Verknüpfungen abgeschlossen sein. Denn danach lernt das Gehirn viel langsamer, dafür präziser. Es geht dann um die Feinmotorik, den Ball sehr präzise im genau richtigen Moment zu fassen u. s. w. Die ‚Autobahnen’ zwischen den Gehirnarealen müssen dann bereits stehen.

Ausserdem werden abstraktere Lerninhalte auf den konkreten aufgebaut. Z. B. hilft ein gutes Körpergefühl beim Erlernen von Mathematik. Wer sein Kind optimal auf die Mathematik vorbereiten will, lässt es basteln und schaut, dass es viel draussen herum rennt, wo es Erfahrungen mit Bewegungen im Raum machen kann. Dies ist bekannt. Wie Satire hört sich aber die oft gehörte Schlussfolgerung an: Kinder sollen ihre Körperkoordination schulen, indem sie Computerspiele spielen. Kann irgendjemand irgendeine Sportart nennen bei der noch weniger Körperkoordination nötig ist als bei einem Computerspiel? – Vielleicht abgesehen von Schach?

Bei älteren Kindern ist augenfällig, wie gerne sie am Computer sind, ob sie nun dort spielen, chatten, einen Film schauen oder sogar Aufgaben für die Schule lösen. Wenn Kinder etwas besonders gerne tun, ist dies oft ein Zeichen dafür, dass die Kinder dabei etwas lernen. Deshalb liegt der Gedanke nahe, dass Kinder am Computer oder am Fernsehen etwas lernen. Wäre es nicht denkbar, dass die richtigen Lernprogramme ein sehr effizientes Lernen ermöglichen?

Da das Gehirn wie oben dargestellt durch das bilden von Netzwerken lernt, durch Verknüpfung möglichst unterschiedlicher Gehirnbereiche, scheint diese Hoffnung ziemlich gewagt. Denn ein Computer regt nun mal nur ganz wenige Sinne nur sehr eingeschränkt an. Manfred Spitzer analysiert anhand einiger besonders gelobter Computerspiele, was nun die Gehirnleistung bei diesen Spielen ist. Sie ist so erbärmlich, dass selbst das fantasieloseste Wörterlernen mit Karteikarten dem Computerlernen zumindest ebenbürtig ist. Wenn Schüler den Computer bevorzugen, dann deshalb, weil dessen Lernprogramme durch originelle Gags vom eigentlichen Lernstoff ablenken.

Die Beliebtheit von Computerspielen und Lernprogrammen beruht nicht zuletzt auf der Optimierung der Motivationsspritzen. Ein Spieler kriegt in regelmässigem Abstand kleine und grössere Belohnungen. Dies hat zunächst einmal den begrüssenswerten Effekt, den Spieler, der im Idealfall ein Lernender ist, bei der Stange zu halten. Tatsächlich legen Computerspieler ein ja geradezu sagenhaftes Durchhaltevermögen an den Tag und in die Nacht. Was könnte die Schule erreichen, wenn Schüler mit so viel Eifer lernen würden!

Aber ist das tatsächlich Durchhaltevermögen? – Durchhaltevermögen bedeutet, eine Last in Kauf zu nehmen, um sich einen späteren, grösseren Gewinn zu verdienen. Computerspiele leisten gerade das Gegenteil: Mit perfekter Optimierung erhalten die Spieler immer genau dann die Belohnungen, wenn die Gefahr auftaucht, dass sie abspringen könnten. Gerade die Perfektion des Belohnungssystems verhindert, dass der Spieler wahres Durchhaltevermögen trainieren könnte. Wenn –wie es bei Alltagsproblemen immer der Fall ist- die Belohnung nicht bereits nach den ersten Schritten erreichbar ist, wenn zum ersten Mal richtiges Durchhaltevermögen verlangt wird, sind Computerspieler nicht darauf vorbereitet.

Da das Durchhaltevermögen neben der Intelligenz für den Lernerfolg die wichtigste Persönlichkeitseigenschaft ist und da das Durchhaltevermögen bei Computerspielen systematisch geschwächt wird, leuchtet sofort ein, dass Kinder, die oft am Computer spielen, in der Schule schlechtere Leistungen zeigen als andere. Die für mich erstaunlichste Erkenntnis ist aber, dass ‚digitale Kinder’ selbst in dem Bereich, den sie am meisten üben, schlechter abschneiden als Kinder ohne Computer. Man würde denken, wenn ein Kind ständig mehrere Dinge gleichzeitig tut, Fernsehen schauen, einen Chat im Internet verfolgen, mit einem Freund telefonieren und dazu Musik hören und ein Computerspiel spielen, dann kriege das Kind Übung darin, mehrere Dinge gleichzeitig im Auge zu behalten oder zumindest die Aufmerksamkeit schnell von einer Tätigkeit zur anderen zu wechseln. Tatsächlich verlernen solche multitaskenden Kinder aber so gründlich, ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren, dass sie am Ende selbst beim Multitasking schlechter abschneiden als Kinder, die das kaum machen.

Manfred Spitzer ist eine wichtige Stimme zur Herausforderung der Digitalisierung, gerade weil er dezidiert eine andere Meinung vertritt als der Mainstream. Schon bei einem minimalen Grundlagenwissen über die Gehirnentwicklung, hören sich aber viele Schlagworte des Mainstreams wie Realsatire an. Wir müssen die Herausforderung der Digitalisierung mutig, mit Energie, aber auch mit Rückgrat anpacken. Digitale Medien sind heute so allgegenwärtig, dass unsere Kinder kaum mehr die Grundlagen der realen Welt lernen können, um als Erwachsene sinnvoll mit digitalen Medien umzugehen. Die Herausforderung besteht also darin, den Kindern und Jugendlichen trotz allgegenwärtigen digitalen Medien so viele Kontakte mit der realen Welt zu ermöglichen, dass sie die virtuelle Realität irgendwann positiv nutzen können.
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