Cover des Buches Yahya Hassan (ISBN: 9783550080838)
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Rezension zu Yahya Hassan von Yahya Hassan

Nichts für zarte Gemüter

von Gospelsinger vor 10 Jahren

Rezension

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Gospelsingervor 10 Jahren
Ich lese selten Gedichte, weil ich meist keinen rechten Zugang dazu finde. Bei diesen Gedichten jedoch ist das überhaupt kein Problem. Der Zugang muss nicht gefunden werden, sondern man wird regelrecht hineingestoßen. Diese Gedichte müssen nicht mühsam interpretiert werden, sie sind glasklar und DEUTLICH (und durchweg in Großbuchstaben geschrieben).

Der Autor, ein 19jähriger „staatenloser Palästinenser mit dänischem Pass“, stand während der Leipziger Buchmesse unter Polizeischutz, denn manchen Menschen sind seine Gedichte zu deutlich. Zu kritisch. Zu wahr. Yahya Hassan rechnet mit allen ab, sowohl mit den Islamisten, als auch mit dem dänischen Sozialsystem.

Und das mit einer Wucht, die ich in Gedichten noch nicht erlebt habe. Wenige Worte reichen, um eine Kindheit voller Angst und Gewalt zu beschreiben, und zwar so, dass einem beim Lesen der Atem stockt.
Angst ist das vorherrschende Thema dieser Kindheit: Angst vor den Bomben im Flüchtlingslager, Angst vor dem Rassismus der dänischen Bevölkerung, vor allem aber Angst vor dem Vater.

FÜNF KINDER IN AUFSTELLUNG UND EIN VATER MIT KNÜPPEL
VIELFLENNEREI UND EINE PFÜTZE MIT PISSE

Der brutale Vater prügelt seine Kinder und seine Frau am liebsten mit einer Holzlatte. Als er sich von der Mutter des Autors trennt und eine neue Frau nimmt, bricht die Familie auseinander. Der Vater wohnt auch von der zweiten Frau getrennt, um weiterhin Sozialleistungen zu kassieren – und geht jeden Freitag brav in die Moschee.

ER SPRICHT SEIN GEBET IN DER GRIMHØJ-MOSCHEE
UND FICKT EINE DÄNIN BEIM HAFEN
ER HAT MUTTERS MÖBEL GESTOHLEN
UND IHRE KLEIDER AUS DEM FENSTER GEWORFEN
ER SPRICHT EIN VERBOT AUS
JETZT SEHEN WIR UNS HEIMLICH BEIM PAUSENLÄUTEN

Um seinen bettnässenden kleinen Bruder vor der Wut des Vaters zu schützen, hilft Yahya ihm, die nasse Bettwäsche abzuziehen und heimlich zur Mutter zu bringen, die sie wäscht.
Der nach außen hin fromme, dabei aber brutale Vater ist keine Ausnahme. In den anderen Migrantenfamilien in Aarhus West, dem schlimmsten Armutsviertel Dänemarks, sieht es nicht besser aus.
Die Eltern sind gedanklich in ihren Herkunftsländern und lassen sich nicht auf die dänische Gesellschaft ein. Um ihre Kinder kümmern sie sich nicht, obwohl sie den ganzen Tag über Zeit für sie hätten. Das ist der Hauptvorwurf des Autors: Das Desinteresse der Eltern an den Kindern, die sie nur ab und an schlagen, damit sie die Illusion aufrecht erhalten können, ihre Kinder zu erziehen. Davon abgesehen verbringen sie ihre Zeit mit allem anderen, nur nicht mit den Kindern.
Die Väter benehmen sich wie Paschas und befürworten den Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen – deren Sozialleistungen sie aber gern in Anspruch nehmen. Die Cousinen tragen Kopftücher und werden irgendwann verheiratet, um in einem anderen Wohnblock die gleichen Lebensgeschichten fortzuschreiben. Die Cousins sind kriminell.

Auch Yahya Hassan ist schon früh kriminell geworden.

IN DER WOHNUNG DIE ICH ANGEZÜNDET HABE
ASSEN WIR IMMER VOM BODEN

Die muslimische Gesellschaft im Ghetto bleibt unter sich, es gibt keine Kontakte zur dänischen Gesellschaft. Nur ab und an verirren sich andere Jugendliche ins Ghetto, wenn sie für ihre Abschlussfeier einen Partyraum angemietet haben.

BEI SOLCHEN ANLÄSSEN
SCHLEICHEN SICH DIE GHETTOKINDER EIN
WIR STEHLEN TASCHEN UND JACKEN

Yahya beschreibt, dass ihm ein DICKLICHES MÄDCHEN, das allein in der Ecke saß, leid tat. Aber als er sie zum Tanzen auffordert, sagt sie
NICHT MIT KANAKEN
In aller Deutlichkeit beschreibt Yahya, wie er später das Mädchen ausraubt und aus einem Bus heraus dabei beobachtet wird, wie er sie schlägt.

EIN OPFER
EIN TÄTER
UND VIEL ZU VIELE ZEUGEN

Yahya Hassan wird im Alter von 13 Jahren erstmals in eine Besserungsanstalt für straffällige Jugendliche eingewiesen. Das hätte der Anfang einer kriminellen Karriere und das Ende seiner Geschichte sein können, aber die Literatur, an die ihn eine Lehrerin heranführt, erweist sich als Rettung. Aus dem Kriminellen wurde ein Dichter, ein Autor, der autobiografische Poesie schreibt, die sich wie eine Chronik liest und einen seltenen Einblick in die muslimische Parallelgesellschaft gibt.

Diese Gedichte sind nicht schön. Yahya Hassan schreibt in der Sprache, die ihm vertraut ist, der Sprache des Ghettos, voller Fäkalausdrücke und brutal.
Nein, diese Gedichte sind nicht schön. Aber authentisch.

Sein Leben wirkt wie eine Erfolgsgeschichte, jedoch, so Hassan in seinem Langgedicht am Ende des Buches, lassen sich die Herkunft und die Vergangenheit nicht abschütteln. Das lässt die Gesellschaft nicht zu.
Und auch er selbst ist wahrscheinlich viel zu tief in sein Herkunftsmilieu verstrickt, um es wirklich hinter sich lassen zu können.
Eine Kindheit mit einer lieblosen Mutter, die sich nicht kümmert, einem psychopathischen Vater und einer kriminellen Familie, in der es keine Vorbilder gibt, lässt sich nicht so einfach überwinden, erst recht nicht, wenn noch Rassismuserfahrungen dazukommen.

Aber man sollte die Hoffnung nie aufgeben. Menschen sind lernfähig und passen sich an ihre Umgebung an. Im Schlechten wie im Guten.

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