Cover des Buches London NW (ISBN: 9783462045574)
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Rezension zu London NW von Zadie Smith

London - Multikulti in einer modernen Welt

von Corsicana vor 10 Jahren

Kurzmeinung: London und Multikulti pur

Rezension

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Corsicanavor 10 Jahren

Der neue Roman von Zadie Smith spielt im Nordwesten Londons, kurz London NW, wie es postalisch bezeichnet wird. Dort wachsen Leah, Nathalie (die früher Keisha hieß), Felix und Nathan in einer sozial eher schwierigen Umgebung auf. Soziale Brennpunkte und halbwegs bürgerliche Gegenden liegen recht nah beieinander, die Bevölkerung ist bunt gemischt aus Menschen mit afrikanischen, Jamaikanischen, irischen, britischen, nordafrikanischen und weiteren internationalen Wurzeln. Der Schwerpunkt des Romans liegt jedoch nicht in der Problematik der Hautfarbe oder Rasse für die Lebensgestaltung der Protagonisten - sondern eher in der Bedeutung der Herkunft aus sozialer Sicht. Die Frage ist: Wie wirken sich das Bildungsniveau der Herkunftsfamilie, deren Wertvorstellungen, das Behütetsein oder die Vernachlässigung auf das zukünftige Leben aus.

Diese Frage beantwortet jeder der vier Hauptprotagonisten anders.

Da ist zunächst Leah, die von der Herkunft her (Irisch, rothaarig, weiß, Eltern eher kleinbürgerlich und mit großen Plänen für die Zukunft des einzigen Kindes) eigentlich die besten Voraussetzungen gehabt hätte. Aber Leah gleitet - begleitet vom Dope-Rauchen - einfach so vor sich hin: Ohne Ehrgeiz, ohne Ziele - außer dem Ziel, immer 18 bleiben zu wollen und keine Kinder bekommen zu müssen. Leah ist mit Michel verheiratet - der aus einer afrikanischen Einwandererfamilie stammt. Er träumt den Traum vom Weiterkommen, vom Hauskauf in einer "besseren" Gegend, von Kindern und Familie. Leah will sich diesen Plänen nicht anschließen - äußert dies jedoch nicht konkret sondern entzieht sich der Verantwortung durch Abtreibungen und durch geheime Einnahme der Pille.

Das Gegenmodel zu Leah ist ihr langjährige Freundin Keisha, die sich inzwischen Nathalie nennt. Keisha stammt aus einer Familie mit jamaikanischen Wurzeln, eher arm, bildungsfern - aber streng religiös. Keisha schafft es durch Lernen, viel Arbeit und viel Ehrgeiz ins Studium und zu einem erfolgreichen Job als Juristin. Sie heiratet Frank, den unehelichen Spross einer reichen Adelsfamilie und sie bekommen zwei Töchter und beziehen ein Haus am Park in einer "besseren" Gegend von NW. Und Keisha benennt sich selbst um in Nathalie. Auch bei Nathalie ist nicht alles so glanzvoll, wie es nach außen scheint, auch sie hat ihre Geheimnisse.

Eine Episode ist Felix gewidmet, der in der selben Siedlung wie Keisha in eher ungeordneten Verhältnissen aufgewachsen ist. Felix hat sich nach Jahren im Drogensumpf endlich befreit und möchte mit seiner neuen Liebe ein neues Leben beginnen - vorher besucht er jedoch noch seine bisherige Geliebte - eine sehr schön beschriebene Szene (hart und poetisch zugleich) über den Dächern von London. Felix ("Der Glückliche" - ja das hat Zadie Smith wirklich auf der litcologne gesagt - für sie Felix der Glückliche in diesem Buch) stirbt am Ende dieses Tages .....

Nathan, ein weiterer inzwischen Erwachsener Mann aus der Siedlung, hat es dagegen nie geschafft, sich aus dem Drogensumpf zu befreien und ist immer weiter abgerutscht, Nathan zieht in einem der Kapitel mit Keisha/Nathalie durch die Nacht. Und im Endeffekt führt er zum letzten Kapitel des Buches, in dem die Fäden zusammenlaufen...

Insgesamt hat mir die Lektüre des Buches gut gefallen - ich persönlich mag Episodenfilme und Episodenromane und ich konnte auch gut mit den verschiedenen Erzählstilen umgehen. Jedem Protagonisten ist quasi ein Kapitel gewidmet, wobei es keinen direkten Erzähler gibt und jedes Kapitel sprachlich komplett anders gestaltet ist. Erzählungen, Beschreibungen, Assoziationen, Absätze wie in der Juristensprache - die Stilmittel sind vielfältig. Dies macht die Lektüre abwechslungsreich - aber auch teilweise schwierig. Nicht alles wird genau beschrieben - vieles ist nur anhand einer Art "Flow of Consciousness" zu erahnen.

Es wird eine ganz eigene Atmosphäre in diesem Buch erzeugt - man taucht ein, erschreckt zwischendurch, freut sich zwischendurch - und hat das Gefühl, ein wenig selbst durch London gestreift zu sein. Und ein wenig vom Lebensgefühl der heutigen Großstadtmenschen mitbekommen zu haben - die Chancen und auch die vielen Risiken, die ein Mensch heutzutage erleben kann. Ich kann Zadie Smiths Einschätzung, dass Felix der " Glückliche" im Buch ist, zwar nicht teilen - fand die Figurenzeichnungen jedoch sehr interessant. Ich persönlich mochte am liebsten Keisha/Nathalie, weil sie sich durch Mühe und Arbeit selbst durchgekämpft hat - und Leah mochte ich am wenigsten, weil sie so lethargisch und wenig zielgerichtet war - aber dies ist im Endeffekt wohl nur meine persönlich gefärbte Reaktion, die sicherlich auch von meiner persönlich erlebten Sozialisation geprägt ist.

Im Endeffekt ist das Leben bunt - nicht durch Hauptfarben bunt - sondern durch die vielen Möglichkeiten und Einschränkungen bedingt, die den Werdegang eines Menschen beeinflussen können.

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