Rezension zu "Karl der Große" von Wilfried Hartmann
Es ist eine Binsenweisheit, dass sich über die Herrscher des Früh- und Hochmittelalters keine Biographien im herkömmlichen Sinne schreiben lassen. Karl der Große, der Frankenkönig und Kaiser, bildet hier keine Ausnahme. Das, was an sicheren Informationen über Leben, Persönlichkeit und Herrschaft Karls des Großen vorliegt, hat Wilfried Hartmann in seinem handlichen Büchlein knapp und schnörkellos zusammengefasst. Der Band richtet sich augenscheinlich an Studierende, die sich im Rahmen des Studiums rasch und ohne viel Aufwand über Karl den Großen informieren wollen. Diesem Zweck wird das Buch, das ganz auf Faktenvermittlung angelegt ist, hervorragend gerecht. Schriftstellerische Ambitionen verfolgt Hartmann nicht.
In der Einleitung charakterisiert Hartmann die zur Verfügung stehenden Quellen. Die ersten sechs, allesamt recht kurz geratenen Kapitel sind dem Aufstieg der Karolinger sowie dem familiären Hintergrund, der Jugend, dem Familienleben und der Persönlichkeit Karls des Großen gewidmet. Dem biographischen Abriss folgen mehrere thematisch angelegte Kapitel, die umfangreicher und gehaltvoller sind. Sie behandeln die Kriegszüge des Königs und Kaisers, die Mittel und Grundlagen seiner Herrschaftsausübung, sein Verhältnis zur Kirche, sein Engagement für das Bildungswesen, die Kaiserkrönung im Dezember 800 sowie die Kontakte zu Staaten und Regionen jenseits des Karolingerreiches. Hartmann würdigt Karl den Großen als bedeutenden Herrscher, der die Expansionspolitik seines Vaters und Großvaters fortsetzte, neue Gebiete erfolgreich in das Reich integrierte, Verwaltungsstrukturen ausbaute, namhafte Gelehrte in seine Dienste nahm und dem Bildungswesen zu einem Aufschwung verhalf (sogenannte Karolingische Renaissance). Misserfolge und unvollendet gebliebene Vorhaben, etwa auf dem Gebiet des Rechtswesens, werden nicht ausgeblendet.
Den Beinamen der Große verdient Karl aus Hartmanns Sicht in erster Linie für seine in der Tat staunenswerten militärischen Erfolge (Eroberung des Langobardenreiches, Eroberung Sachsens, Zerschlagung des Awarenreiches). Unter ihm erreichte das Frankenreich seine größte Ausdehnung. Der Band endet mit einem Ausblick auf die Zeit nach Karls Tod. Es zeigte sich bald, dass das Reich zu groß war, um dauerhaft von einem einzelnen Herrscher regiert zu werden. Schon in der Generation der Enkel des Kaisers kam es zur Aufteilung des Frankenreiches. Franzosen und Deutsche können heute Karl den Großen mit gleichem Recht als Begründer ihrer Staaten ansehen. Das Nachleben des Kaisers im Mittelalter und seine Verklärung zum idealen Herrscher skizziert Hartmann im letzten Kapitel. Auch wenn Karls Reich nicht von Dauer war, könne der Kaiser immer noch als "Vater" oder "Baumeister Europas" angesehen werden, so Hartmann abschließend, denn er habe - allein schon mit der Wiedererrichtung des westlichen Kaisertums - Traditionen begründet und Strukturen geschaffen, die das ganze Mittelalter geprägt und bis in die Neuzeit fortgewirkt hätten. Gerade diesen Aspekt hätte Hartmann mehr vertiefen können, aber in einer so schlank gehaltenen Biographie wie dieser war dafür kein Platz. Wer sich intensiver mit Karl dem Großen beschäftigen möchte, findet in der reichhaltigen Bibliographie viele Literaturhinweise.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im September 2013 bei Amazon gepostet)