Mutter ist nicht mehr jung und ihr Körper funktioniert nicht mehr wie früher. Ihre Zähne schmerzen und sind lose und es wird schwer sich um das Haus und den Garten zu kümmern. Die Kinder sind lange schon weg, rufen drei Mal im Jahr an.
Aber Mutter hat ihre neun Sprachen und da steckt noch immer viel Leben in ihr. Sie lässt sich ihre Zähne ziehen, verlässt auch das Haus und die Verantwortung, die damit verbunden ist. Sie badet oben ohne im Schwimmbad, singt eine Arie vom Dreimeterbrett und beginnt eine Affäre mit der Stimme der Telefonauskunft und durchläuft einen Stimmbruch, der sie wieder zu sich selbst bringt.
Auf den ersten Seiten war ich mir etwas unsicher, was ich von „Mutters Stimmbruch“ halten soll, doch schnell hatte mich Katharina Mevissens ungewöhnliche Protagonistin in ihren Bann geschlagen. Heldinnen jenseits der fünfzig sind in Literatur noch immer eher selten und meistens kommen ihnen festgelegte Rollen zu. Umso erfrischender war es, hier über eine gealterte Frau zu lesen, die sich nicht in die Konventionen einfügt, die ihre Kämpfe auszufechten hat, aber nicht unglücklich ist und sich gegen alle Konventionen stellt. Familie ist für Mutter sehr in den Hintergrund getreten, weshalb die Bezeichnung oft fast unpassend wirkt. Ihr Körper macht ihr Schwierigkeiten, aber sie sieht ihn nicht als Feind und sie lebt ihre sexuellen Bedürfnisse ohne Scham aus. Versuchen, sie in die Spur zu bringen begegnet sie mit oft überraschender Vehemenz, schreckt auch vor Gewalt nicht zurück. Metaphern mischen sich mit der Realität, um die Lebenswirklichkeit dieser Figur abzubilden, die oft etwas Archaisches hat, fast wie ein Naturwesen anmutet, um dann wieder allzu menschlich zu sein. Für mich purer Lesegenuss.
Katharina Mevissen
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
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Ich kann dich hören
Mutters Stimmbruch
Gesammeltes Schweigen
Ich kann dich hören
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„Die alten Zähne wurden schlecht, und man begann sie auszureißen. Die neuen kamen gerade recht, mit ihnen ins Gras zu beißen.“ Heisa, was war das lustig, als man frisch gebadet im Schlafanzug bei der Oma auf der Couch saß und gebannt der großen Samstagabend-Fernsehshow folgte. Hihi, Zahnausfall, dachte man. Bis es einen selbst betraf.
Betroffen ist auch die Tochter, die ihrer Mutter beim Stimmenverlust anfangs tatenlos zusehen muss. Auch hier sind die Zähne die Quelle des Verlusts. Waren sie zu Beginn noch Quell der Hoffnung – mit jedem Milchzahnverlust erlernte die Mutter eine neue Sprache (allerdings nur bei Eckzähnen) – steht heute der Wegfall der Beißkraft für einen Schritt des Älterwerdens. Irgendwie ist der Schwung verloren gegangen.
Alles um Mutter herum ist Herbst. Es regnet durchs Dach, der Garten ist braun und grau und unansehnlich. Die Motivationsschübe sind noch nicht ganz verklungen, doch die Abstände werden größer. Dafür werden die Ausschläge expressiver. Es muss sich was ändern.
Der Umzug ist der einzige Ausweg, wenn es diesen überhaupt gibt. Verzögerungstaktik oder Umwälzung? Ewiger Herbst oder neuerlicher Herbstbeginn mit strahlendem Sonnenschein und partieller Lichtkraft? Es ist mehr als einen Versuch wert…
Katharina Mevissen treibt ihre sonderbaren Gedanken (und das ist in diesem Fall nur positiv gemeint) dem Leser mitten ins Hirn. Voller Anspielungen und Mehrfachdeutungen bedient sie sich dem Klischeebild der alternden Mutter. Wenn etwas fehlt – in diesem Fall erst ein Zahn, dann noch einer, immer öfter sogar die Stimme – geht auch der Nimbus Mutter verloren.
Immer wieder schafft Katharine Mevissen den Twist nicht ins Kitschige oder gar Lächerliche zu verfallen. Mutter ist ein ernstes Thema. Doch nicht nur das: Mutter ist Mutter. Das gibt es keine Grauzone. Nicht einmal eine Parallelwelt. „Mutters Stimmbruch“ ist nicht mehr und nicht weniger als eine liebevolle Auseinandersetzung mit dem Älterwerden des wichtigsten Menschen. Tragik und Komik liegen oft beieinander. Hier hupfen sie Händchen haltend durchs Leben. Und der Leser darf dabei zusehen. Und lauschen. Und sich in der Geschichte festbeißen…
»Mutter kann neun Sprachen, aber redet mit niemandem mehr.
Manchmal spricht sie mit der Zentralheizung, den Bäumen und dem Brot, beschimpft ihre Zähne oder das Radio. Ansonsten schweigt Mutter. Sie hat zu wenig Stimme.« |5
Das Haus verfällt, das Dach ist undicht, die Rohre sind schwach wie Mutters Zähne. Mutter schweigt, sie hat das Radio, ihre Pflanzen, ihre Gedanken, den Garten und den Heizungskeller. Als die Heizung nicht mehr geht, die Rohre platzen, zieht sie weg, das Haus ist eh zu groß, sie liebte es nie. Dort wo sie nun ist, hat sie kein Telefon, keine Badewanne, die Telefonzelle und das öffentliche Schwimmbad gehen auch. Mutter treibt durchs Leben, einsam? Es scheint so nicht. Sie macht einfach und schert sich nur um sich.
»Mutters Stimmbruch« hat mir heitere und gehaltvolle Lesestunden beschert. Mit meinem Außenblick sah ich eine verwirrte alte Frau, die Handwerkern ihre Arbeit verunmöglicht, die stürzt, die Telefonstreiche macht, sich im Schwimmbad entblößt, die sich manchmal auch unheimlich und obszön geriert. Luftig und melodiös las sich »Mutters Stimmbruch« und ließ mich lächelnd auf das Thema Altern von Angehörigen und mir selbst blicken, was guttat angesichts des ganzen Dunstes der Schwere, die das Thema Altern und Pflegebedürftigkeit umgibt. Daher leg ich es besonders jenen Menschen ans Herz, die dieses Thema derzeit umgibt, aber auch Menschen, die schräge Figuren, das Absurde und eine klingend-beschwingte Sprache lieben.
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