Rezension zu "Das meschuggene Jahr" von Memo Anjel
In der kolumbianischen Literatur ist die überbordende Gewalt zum dominierenden Thema geworden: „Die Realität ist unvermeidbar, auch wenn man ihr ausweicht. Die Gewalt, von der man in den Büchern liest, ist selbstverständlich eine Tochter der uns umgebenden Gewalt“, schrieb der kolumbianische Journalist und Schriftsteller Héctor Abad Faciolince in der Literaturbeilage der spanischen Tageszeitung "El País". Alle Formen der "violencia" herrschen vor: Entführungen, Drogenkriminalität, Bürgerkrieg, Korruption und Flüchtlingselend.
Die Literatur bestätigt damit nur, was auch schon aus den Massenmedien über Kolumbien bekannt ist. Immerhin scheint die Ästhetisierung dieser Gewalt für Schriftsteller und Verlage ein recht lukratives Geschäft zu sein. Prominente Autoren wie Santiago Gamboa ("Verlieren ist eine Frage der Methode") oder Jorge Franco ("Die Scherenfrau") konnten schon Ende der 1990er Jahre mit ihrem Schreiben über Kriminalität und Gewalt kolumbianischer Großstädte beträchtliche Erfolge erzielen. Auch deshalb reduziert sich die deutsche Wahrnehmung von Kolumbien bestenfalls darauf, dass das Land "irgendwo in Südamerika" liegt und man seinen Urlaub besser woanders verbringt. Kaum irgendwo auf der Welt ist das Risiko, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, so hoch wie dort. Also doch lieber nach Kuba, in die "Dom-Rep", vielleicht auch nach Chile.
Ganz anders dagegen als die problematisierende Literatur seiner kolumbianischen Schriftstellerkollegen ist der Ton von Memo Anjels Roman "Das meschuggene Jahr": "Viele Geschichten trug er singend vor, er sang von Elefanten, die größer waren als unser Haus, und von Fledermäusen, die es mit einem zweimotorigen Flugzeug aufnehmen konnten, und von Arabern, mit Bärten so lang, dass sie von einer Oase zur anderen reichten." Mit diesen Worten beschreibt der dreizehnjährige Ich-Erzähler seinen Onkel Chaim, eine schillernde Gestalt, die ganz unerwartet ins Haus der Familie kommt, um dort in der Obhut seiner Schwester an Schwindsucht zu sterben. Onkel Chaim aber stellt die Glaubwürdigkeit des Hausarztes Dr. Schmulson ganz schön in Frage, denn er will und will einfach nicht dahinscheiden. Er sei, erklärt seine Nichte Victoria, "wie eine dieser Katzen aus Samarkand, die so viele Leben hätten, dass man sie nicht zählen könne". Dabei reibt sie sich die Nase mit Knoblauch ein, "als Schutz vor dem bösen Blick." So kann der Onkel tatkräftig seinen Schwager bei der Konstruktion einer Brotmaschine unterstützen, die "alle Vorgänge einer Brotfabrik in sich vereinigt". Diese Erfindung soll der zehnköpfigen sephardischen Großfamilie endlich die Reise nach Jerusalem finanzieren, auf die man sich seit langer Zeit mittels Nippesfiguren, Postkarten und der lebhaften Erzählungen am Küchentisch vorbereitet (der Originaltitel des Romans lautet "Mesa de judíos", übersetzt "Tisch der Juden").
Die Welt der Familie, die im jüdischen Viertel "Prado" der kolumbianischen Großstadt Medellín wohnt, ist voller Widersprüchlichkeiten. Sie ist gleichsam beseelt von Tradition, Gottesfürchtigkeit und Orthodoxie wie von Sittenverfall, Aberglaube und Liberalismus. Die ganz bodenständige Angst vor einer Arbeitslosigkeit des Vaters wird durchlaufen von Todesengel-Küssen oder Versuchen, die Lehre der Kabbala noch einmal neu zu erfinden.
Zwar heißt es in Memo Anjels Roman "die Zeiten waren schlecht, das stand in der Zeitung und das konnte man auf der Straße hören", bei derart vagen Andeutungen über die soziale und politische Situation Kolumbiens im Jahr 1954 belässt es der Autor dann aber auch; vom Bürgerkrieg zum Beispiel ist rein gar nichts zu spüren in seinem Roman. Memo Anjel will sich ganz bewusst nicht, so erklärte er, als er die deutsche Übersetzung seines Romans in Zürich vorstellte, an einer "morbiden" Literatur beteiligen, die die alltagsbestimmende Angst der Leser vor Gewalt dazu missbrauche, Spannung zu erzeugen. Viele kolumbianische Romane beschreiben nicht mehr, was tatsächlich geschieht, sondern bedienen nur noch Klischees; damit verzerren und vergrößern sie die Gewaltphänomene. Deshalb, so Anjel, gebe es in "Das meschuggene Jahr" keine Gewalt. "Es gibt eher Träume und Ideale – und Verrücktheit."
Damit liegt "Das meschuggene Jahr", um einen filmischen Vergleich zu ziehen, auf einer Linie mit dem deutschen Film "Alles auf Zucker" – nicht nur, weil beide das zugegebenermaßen etwas seltsame Lebensfeld urbaner jüdischer Familien darstellen, sondern auch, was die Stimmung von Roman und Film angeht. Nur ein Beispiel dafür sind die kruden Experimente der Familienoberhäupter, Geld zu beschaffen: Der eine versucht als Erfinder, die Brotindustrie zu revolutionieren, der andere dreht allerlei krumme Dinger und simuliert vor seiner eigenen Familie sogar eine Herzattacke, um heimlich an einem Billardturnier teilzunehmen – mit dem Gewinn könnte er seinen Kopf gerade noch einmal aus der Schlinge ziehen. Sowohl der Film als auch der Roman enden dann auch im Happy-End: In "Alles auf Zucker" ist die Familie vereint, so wie es die gläubige Mama mit ihrem Testament gewollt hat, im Roman geht es auf nach Jerusalem: "Eine Woche vor dem Pessachfest trafen wir in Jerusalem ein. Und nichts war uns fremd, ...".
Memo (sein eigentlicher Vorname lautet José Guillermo) Anjel wurde genau in dem Jahr in Medellín geboren wurde, in dem auch sein Roman spielt. Und auch bei den Figuren im Roman gibt es angebliche Ähnlichkeiten zu Anjels eigener Familie, zum Beispiel zwischen der Figur des Erfinder-Vaters und seinem eigenen, früh verstorbenen Vater. Memo Anjel ist Professor für Soziale Kommunikation an der Medellíner Universität "Ponificia Bolivariana" und gehört in Kolumbien zu den bedeutendsten zeitgenössischen Schriftstellern. Bekannt ist er dort nicht nur durch seine Romane, sondern auch durch seine Kolumnen in der Tageszeitung "El Columbiano", kulturelle Sendungen im Rundfunk, Essays und durch seine Comics.