Wieder einmal ist Paul Auster in aller Munde. Und das vollkommen zu Recht, leistet er in seinen Büchern doch regelmäßig Erstaunliches. Bevor ich mich an sein Magnus Opum herantraue das im Regal auf mich wartet, statte ich ihm doch zunächst lieber den einen oder anderen Besuch über seine weiteren Werke ab.
Der erste Satz
"Seit fast einem Jahr macht er Fotos von aufgegeben Dingen."
Miles Heller ist Ende Zwanzig und bereits ein gezeichneter Mann. Mit seiner Intelligenz standen ihm alle Türen offen. Doch die Schuld, seinen Halbbruder getötet zu haben, wiegt schwer und lastet allein auf ihm. Keinem Menschen hat er sich anvertraut – ein Unfall ist die offizielle Lesart. Nach Jahren des inneren Rückzugs von seinen Eltern bricht Heller jeden Kontakt ab, verlässt das College und schlägt sich durchs Leben mit diversen Gelegenheitsjobs. An diesem Punkt steigt der Leser ins Geschehen ein. Heller entrümpelt geräumte Häuser und spürt in den verlassenen Gegenständen den ehemaligen Bewohnern nach. Ein gutes Geschäft in den Jahren nach der geplatzten Immobilienblase. Eine Freundin hat er so auch gefunden – Pilar Sanchez, blutjung, klug und voller Leben. Nach den Jahren der Rastlosigkeit könnte sich erstmals wieder so etwas wie ein geregeltes Leben einstellen.
Wäre da nicht Pilars Schwester, die damit droht, der gesetzeswidrigen Affäre ein Ende zu setzen. Heller muss also abermals flüchten, um einer Anzeige zu entgehen und ihre Liebe bis zu ihrer Volljährigkeit zu retten. Er kommt zurück nach New York und findet Unterschlupf bei Bing Natham, einem Freund aus alten Tagen. Natham hat mit zwei jungen Mitbewohnerinnen in einer schäbigen Ecke Brooklyns ein heruntergekommenes Haus besetzt und lebt seinen Traum des Aufbegehrens gegen die Behörden.
Auster zeichnet das Haus als Sammelbecken der Gescheiterten. Alle sind jung und gut ausgebildet, aber der amerikanische Traum scheint bereits ausgeträumt und ist in Zeiten der allumfassenden Krise nur noch ein Hohn vergangener Tage. Aufgewachsen in wohlbehüteten Verhältnissen, haben die im Sunset Park Gestrandeten nie gelernt, sich gegen ihr Schicksal zu stemmen. Lethargisch versuchen sie sich zu arrangieren und warten indessen auf die Erholung der Wirtschaft und eine erste Chance im Leben. Auf der anderen Seite stehen Hellers Eltern und seine Stiefmutter: kurz vor dem Ruhestand gelten alte Sicherheiten und Erreichtes nicht länger und ein neuer Tatendrang ist erforderlich, den man verdientermaßen bereits abgelegt hatte.
Jedem Charakter sind mehrere Kapitel gewidmet, die in einer sehr distanzierten und nüchternen Sprache das Innenleben beleuchten. Mit dem zusätzlichen Inhalt zahlreicher Rückblenden setzt sich damit ein prägnantes und ehrliches Bild jedes Einzelnen fest. Damit allein ist Sunset Park für mich bereits lesenswert. Auster will aber mehr. Er will von der Krise erzählen, der wirtschaftlichen wie der gesellschaftspolitischen. Er will ein Amerika zeigen, dass seiner Illusionen und seiner Zukunftsträume beraubt und dem moralischen Verfall bestimmt ist. Den verloren gegangenen Werten stellt er die Künstler und Intellektuelle als Aufrechte entgegen, die aus Idealismus weitermachen und zum Überleben eine Nische im System suchen. In seiner generellen Aussagekraft ist das zugegebenermaßen sehr einfach gestrickt, in der individuellen Erklärung aus den Charakteren heraus jedoch sehr einfühlsam dargestellt.
"Ich wollte wirklich ein besserer Mensch werden. Nur darum ging es. Besser werden, stärker werden – dagegen ist ja wohl nichts einzuwenden, aber es ist auch ziemlich vage. Woran erkennt man, dass man besser geworden ist? Nach vier Jahren auf dem College bekommt man zum Abschluss eine Urkunde, die einem bestätigt, dass man in allen Fächern bestanden hat. Aber so war das hier nicht. Woran hätte ich meine Fortschritte messen können? Also mache ich weiter, ohne zu wissen, ob ich besser wurde oder nicht, ohne zu wissen, ob ich stärker wurde oder nicht, und nach einer Weile dachte ich gar nicht mehr an das Ziel und konzentrierte mich nur noch auf den Weg."
Trotz des ausufernden Plots bleibt das Schicksal Hellers zentrales Element. Und auch hier will Auster mehr. Die Verarbeitung von Schuld, die sich selbst auferlegte Bestrafung und die Schwierigkeit eines Weges zurück reichen ihm nicht. Es müssen darüber hinaus zerbrochene Ehen, Untreue und die schleichende Sprachlosigkeit zwischen ehemals Liebenden sein. Weniger wäre hier deutlich mehr gewesen. Am Ende bleibt wie immer die Dunkelheit. Es kam, wie es kommen musste. Die Zwangsräumung reißt die Ersatzfamilie auf Zeit auseinander und lässt von neuem vereinsamte Individuen zurück. Doch ganz Auster-untypisch keimt in Gestalt Pilars Hoffnung auf. Hoffnung auf eine Zeit nach der Krise mit einer Generation, der vielleicht abermals alles offen liegt.
Was bleibt?
Es ist nicht der große Wurf, der es vermutlich hatte werden sollen. Legt man den Anspruch an ein großes umfassendes Sittengemälde der Krise ab, verbleibt ein Buch, das verletzte, unsichere Menschen auf der Suche nach ihrem Platz im Leben zeigt. Unabhängig vom umgebenden Kontext ist das so eindrucksvoll geschildert, dass Sunset Park nicht leicht abzustreifen ist.