Rezension zu "Die Unberührten" von Pamela Erens
"Wir Anfänger erlebten Sex mehr als Psyche denn als Körper, als Verletzlichkeit und Macht, Ausgesetztheit und Flucht, fühlten uns dadurch gesalbt, gerettet, verklärt."
In meinem ganzen Leben habe ich nicht ein einziges Mal eine treffendere Beschreibung von Sex gelesen, Sex für Jugendliche. Ich lese Einsamkeit, Angst, Sehnsucht und vor allem - Zerbrechlichkeit. Und das ist das Unschuldige an diesem ganzen Buch... Es ist so wunderbar unschuldig und dabei so entsetzlich, entsetzlich tragisch....
Was für ein wunderbares Buch, das uns Pamela Erens geschenkt hat... So viel Zärlichkeit und Liebe und Unschuld, so viel Schmerz und Enttäuschung und dieses Gefühl der Abweisung... Gott, Gott! das Buch hat mir das Herz gebrochen.
Als ich es zu Ende gelesen habe, war ich tagelang auf der Suche nach Rezensionen, nach Meinungen, nach Interpretationen um das Buch zu erfassen; vielleicht konnten es andere besser beschreiben als ich, aber ich habe nichts gefunden, was meiner Empfindung entsprach. Und jetzt sitzt dieser Drang in mir, über dieses Buch zu schreiben.
In den Rezensionen habe ich immer das gleiche gelesen: Es ist ein Buch über das Erwachsenwerden. Und ja, das ist es, aber es ist nicht nur das. Ich habe lange abgeschlossen mit Büchern über Jugendliche und wenn es nur eine Geschichte über das Erwachsenwerden gewesen wäre, hätte ich es gegen die Wand gedonnert.
Zum Inhalt möchte ich nicht viel sagen. Es ist eine Erzählung aus Sicht von Bruce Bennett-Jones, der von alltäglichen jugendlichen Ereignissen berichtet; die Peinlichkeiten der Familie, das Geschwister, das besser ist als man selbst, die Eltern, die sich nicht mehr wirklich zu lieben scheinen, wer mit wem im Bett landet, wo man als nächstes trinkt, wie man am besten die strengen Lehrer und Regeln des Internats umgeht. Alles uninteressant.
Im Fokus stehen Aviva und Seung, eine Jüdin und ein Koreaner, eines der tragischsten Liebespaare von dem ich je gelesen habe.
Ein sehr exzentrisches Paar, das zum Interessensobjekt der Schüler wird, da es alles zu haben scheint, was sie wollen: Liebe und Leidenschaft; Erhabenheit.
Aviva (hebärisch: Frühling), die dunkle mit den schwarzen, schweren Locken, die rassige, aber doch blasse und zerbrechliche Aviva, die egozentrische, gierige Aviva, die sich schrecklich nach Liebe sehnt, die Kontrolle wahren will, weil sie sich diese Schwäche nicht eingestehen will und Angst hat, abgewiesen zu werden, die Aviva, die nicht geben kann, die nur will und will und will. Und diese Liebe soll sie auch bekommen von Seung (koreanisch: "Mönch" oder "Erbe"), einem anständigen, bescheidenen Jungen, der beliebte Schülersprecher Seung, der gut gebaute Schwimmer, der Kiffer, der keine Kontrolle will, der den Erwartungen der Familie entkommen will, die ewige Nummer zwei Seung, der sich niemals beschwert und niemals handgreiflich wird, der disziplinierte, liebevolle Seung, der ebenso ein wenig Liebe, ein wenig Frieden will.
Ein unfassbares Paar, eines der tragischsten. In der Geschichte werden sie beneidet, weil sie sich über die Regeln hinwegsetzen und sich heimlich treffen ohne erwischt zu werden. Das ist aber nicht, was mich interessiert hat. Das unglaublich poetische, künstlerische an diesem Paar ist, dass es sich nicht vereinigen kann, und ich schreibe bewusst nicht miteinander schlafen, sondern VEREINIGEN, denn in dieser Geschichte ist Sex wie oben beschrieben mehr als das Rein und Raus, es ist ein heiliges Ritual, eine Erlösung. Aviva, unsere selbstsüchtige kleine Aviva, die doch auch nur geliebt werden will, gibt Seung die Schuld, da er kurz vor dem Eindringen immer erschlafft, egal wie erregt er ist.
Er hat viel für sie getan, damit sie sich wohl fühlt, er hat versucht,
ihr Problem zu lösen, versucht ihr allerlei Ängste zu nehmen, sie
gehalten, für sie gekocht, sie massiert, sie auf Händen getragen, sie
seinen Eltern vorgestellt, hat alles für sie getan. Er hat auch mit
einer anderen geschlafen, um sich zu beweisen, dass es doch möglich ist,
Sex zu haben. UND HIER möchte ich eine besondere Gabe der Autorin
beleuchten. Diese
Dame, Pamela Erens, schafft es auf GRANDIOSE Art, eine Sex/Liebesszene
gleichzeitig erotisch, zerbrechlich und liebevoll zu schreiben! Das ist
eine Gabe, das ist unglaublich, es ist eine Königsdisziplin. Ich habe
endlich gefunden, was ich so lange gesucht habe und habe viel gelernt.
Obwohl
es mich zerrissen hat, als Seung mit einer anderen geschlafen hat; es
hätte mich nicht interessiert, wenn er nur mit ihr geschlafen hätte,
aber er war so zärtlich und liebevoll zu ihr, dass mir das Atmen schwer
gefallen ist. Und am Ende hat es ihm mit Aviva nicht geholfen.
Ach, Erens, Sie haben mir das Herz gebrochen.
Nicht ein einziges Mal sagte Aviva: ist schon gut, dann nächstes Mal, es ist in Ordnung, mach dir keinen Druck. Nein, so jung und selbstbezogen sie ist, fühlt sie sich verstoßen und ungeliebt:
'"Es zerstört mich... [...]. Die Demütigung... dazuliegen... ich bin innerlich tot... du hast mich getötet... ich kann nichts mehr empfinden... [...] Ich möchte nicht, dass du mich anrufst. Ich möchte nicht, dass du mir schreibst..."
Er ballt die Fäuste; er knirscht mit den Zähnen. Schweiß tritt ihm auf die Schläfen. Er zittert, und dann beginnt er zu weinen.'
S. 249/250, gebundene Ausgabe
Und dann stößt Bennett-Jones ihn mit Gedanken, nur mit Gedanken in den Tod; er erzählt ihm, er habe mit Aviva diese heißen Liebesnächte gehabt (er kannte ja durch einen fehlgeschlagenen sexuellen Übergriff ihren BH) und da wächst Seungs Verzweiflung ins Unendliche; er schwimmt unter Drogeneinfluss in einem See und verunglückt.
"Flüchtig sieht er Avivas Gesicht vor sich, nicht Aviva selbst, sondern ein Bild von ihr, ein Bild, eingefangen von einem Spiegel, einer Glasscherbe, die vorbeischwebt und langsam unter ihm versinkt. Auch er ist eine Scherbe; sie sind beide Scherben, die in einem Meer aus Scherben versinken, ohne jede Bedeutung, glänzend, hübsch anzusehen, gefährlich; so ist die Welt nun einmal, und das akzeptiert er klaglos, während er untergeht."
S. 269, gebundene Ausgabe.
ERENS! Ich kann seine Todesszene nicht vergessen. Diese Verzweiflung, dieser Wahnsinn, diese Sinnlosigkeit, all die Liebe, die zerflossen ist; was für ein grausamer, namenloser Schmerz.
Diese Szene hat mir den Rest gegeben, sie hat mich emotional geradezu vernichtet. Ich konnte Seungs Leiden nicht mehr etragen und ihr Unverständnis darüber, dass er sie doch liebt.
Seung selbst ist eine so tragische Gestalt; seine ganze Liebe perlt am kalten Stein Aviva ab; sie ist gar nicht in der Lage, Liebe zu verstehen.
"Ich spüre gar nichts. [...] Hast du kapiert? Kapiert das irgendjemand? Ich bin kalt. Durch und durch kalt. Es fehlt etwas in mir, genau wie ich immer vermutet habe."
S. 285, gebundene Ausgabe
Was Aviva fehlt, kann ich selber nicht sagen. Vermutlich ist es aber ihre Angst, nicht geliebt zu werden und abgewiesen zu werden. Ich möchte sie nicht als Böse darstellen, sie versteht die Liebe nur nicht und vielleicht trug sie deshalb den violetten BH, die violette Feder im Hut, das violette Kleid...
Violett ist eine so besondere Farbe; zwischen der blauen Unschuld und der roten Erotik stehengeblieben, ganz kalt und verwirrt, kurz davor berührt zu werden, in eines der Stadien zu gelangen. Niemand kann sagen, ob sie unschuldig oder erotisch ist. Alle dachten, sie und Seung hätten heiße Liebesnächte, worum sie beneidet wurden, am Ende aber sieht man die Wahrheit.
"Lieber Gott, Aviva, die große Schlampe von Auburn, war noch Jungfrau gewesen."
S. 290, gebundene Ausgabe
Die Worte, sie sei kalt, sagen, dass sie in diesem Stadium, diesem violetten Stadium steckengeblieben ist; Aviva, unsere rassige, aber so zerbrechliche, unsere violette Aviva, sie ist unberührt geblieben.
Ich wollte diesem Buch eine würdige Rezension schreiben, oder vielmehr meine Gefühle ausdrücken, denn es hat mich zutiefst berührt.
Warum ich dieses Buch interessant fand? In der Literatur habe ich die Kombination aus südöstlicher jungen Frau und asiatischem jungen Mann erstmalig in diesem Buch gefunden und bin aufmerksam geworden. Eine oberflächliche Behandlung der Nationalität fand ich sehr begrüßenswert, alles andere wäre zu politisch gewesen. Und sagen wir es so, das Paar im Buch hatte ein paar, vielleicht zu viele Sachen gemeinsam mit meinem Privatleben... Erens hat viele meiner Nerven getroffen.
Ich liebe Avivas dunkle Locken...
Ach Aviva, ach Seung....