»Fairy Tale« ist ein Roman, den ich vom inzwischen 75jährigen Stephen King nicht mehr erwartet hätte, der auf der anderen Seite typisch für ihn ist. Wa wundert mich also nicht, dass die Kritiken den Roman entweder als Geschwafel oder als Geniestreich bezeichnen.
Auf rund 900 Seiten wird vom siebzehnjährigen Charlie Reade erzählt. Mit sieben verlor Charlie seine Mutter. Sein Vater wurde Alkoholiker, aber mit der Zeit gelingt es Charlie, ihn von der Flasche wegzubringen.
Da lernt Charlie Mr. Bowditch kennen. Einen griesgrämigen alten Herren, der pflegebedürftig ist, der das aber nicht einsieht. Und da Charlie einen Deal mit Gott hat, dass er, wenn sein Papa vom Alkohol loskommt, dafür eine gute Tat vollbringen wird, beginnt er sich um Mr. Bowditch zu kümmern.
Es entwickelt sich eine ungleiche Freundschaft, wie sie halt nun einmal der Stoff für Romane ist.
So weit so spannend. Allein die ersten rund 300 Seiten des Romans, haben mich total abgeholt.
King wäre aber nicht King, wenn es nach den 300 Seiten nicht erst so richtig losgehen würde.
Hier besteht für viele Kritiken der erste Schwachpunkt der Geschichte. Zu langatmig sei dieser Einstieg. Zu krass der Bruch mit der restlichen Story.
Ich kann zwar nachvollziehen, wie man darauf kommen kann. Aber ich persönlich teile dieses Gefühl nicht. Es ist für Stephen King vollkommen typisch, dass eine Story in der realen Welt mit echten Problemen beginnt und dann das Übernatürliche langsam in die Realität einsickert. »Fairy Tale« ist da nicht anders als »Friedhof der Kuscheltiere« oder »Wahn«.
Mit »Fairy Tale« kehrt Stephen King zu seinen Wurzeln zurück. Der Roman atmet die achtziger Jahre. Damit passt er gut zum Stranger-Things-Hype und weckt schon allein deswegen beim Lesen nostalgische Gefühle. Ich jedenfalls habe mich gleich wieder wie ein Zwölfjähriger gefühlt, der auf dem Sofa rumlümmelt und »Talisman« schmökert.
Langer Rede kurzer Sinn: Ich konnte mit der Vorgeschichte viel anfangen. Aber nicht allein wegen Gefühlsduselei. Das erste Drittel trägt meiner Meinung nach dazu bei, dass Charlie nicht nur ein Märchenprinz ist, der die Welt rettet (was er nämlich im Laufe der Handlung nahezu buchstäblich wird).
Er wird in dieser Vorgeschichte zu einer vielschichtigen Figur entwickelt. Jemand, der viel durchgemacht hat. Der viel Gutes vollbracht hat. Nur eben nicht immer aus moralisch einwandfreien Gründen. Und manchmal hat er auch einfach eher Mist gebaut oder macht das weniger Gutes, aber aus den richtigen Gründen. Mit anderen Worten: Er ist ein echter Mensch. Das ist wichtig festzuhalten, denn im weiteren Roman ist er dann eher ein Übermensch.
Aber es wird gezeigt, warum er jemand ist, der nie aufgibt. Wie er in die Rolle als Held hineinwächst und wie hart, und teils auch schmutzig, er sich diese erarbeiten muss.
Ich neige also eher dazu, diese lange Vorgeschichte als genialen Kunstgriff zu werten.
Ohne sie wäre der Rest des Romans eher ein blutleeres und teils auch bedenkliches Klischee.
Nachdem Charlie die Schwelle in die Märchenwelt Empis übertreten hat, geht es permanent darum, Klischees aufzugreifen, um sie zu brechen. Dieses Spiel mit Märchenelementen und -motiven, gefällt mir. Mag man das nicht, ist das einfach nicht der richtige Roman.
»Fairy Tale« ist letztendlich, wie der Titel ja subtil andeutet, schlicht ein Märchen, aber nicht eines, wie die Gebrüder Grimm es erzählt hätten. Aber eines, wie sie es vielleicht erzählt bekommen haben und dann dachten: »Meine Güte, das ist ja nun echt nichts für Kinder. Nehmen wir die gruseligen Sachen lieber raus.«
Aber etwas konkreter: Charlies Pflegefall Mr. Bowditch hat ein Geheimnis gehütet. In seiner Gartenlaube kann man in eine diese andere Welt Empis gelangen. Und in Empis gibt es eine Chance, die kranke und altersschwache Hündin Radar zu retten, wie Charlie nach Mr. Bowditchs Tod erfährt. Und da Charlie weder seine Mutte noch Mr. Bowditch retten konnte, will er wenigstens Bowditchs alte Radar nun zu einer zweiten Chance verhelfen, wie es ihm bei seinem Vater schon einmal gelungen ist.
Und von jetzt an haben wir es mit eben jener abgefahrenen Fantasy-Geschichten zu tun, die ich bereits angedeutet habe. Denn die Welt, in die Charlie aufbricht, ist zwar eine Märchenwelt. Aber sie wirkt wie aus einem Disney-Film entsprungen, bei dem man Quentin Tarantino das Drehbuch schreiben ließ und Robert Rodriguez in den Regiestuhl setzte.
Mit anderen Worten: Es geht ab. Wer schon immer gerne lesen wollte, wie ein Siebzehnjähriger auf einem Quad mit einem Revolver auf Riesinnen schießt, der wird hier seine helle Freude haben.
Abgesehen von solchen Momenten, die Freunde des schlechten Geschmacks glücklich machen, besitzt die gesamte Geschichte schlichtweg das, was ich von richtig guter Fantasy erwarte. Das Untypische im Typischen.
So ziemlich jedes Fantasy- (und auch Horror-) Klischee wird bedient. Wie bei King durchaus üblich auch nicht besonders subtil. Seine Anleihen an den Cthulhu-Mythos sind mehr als nur explizit. Aber all das wird eben immer wieder ironisch gebrochen. Dabei ist die Ironie keine offensichtliche, obwohl die Handlung durchaus brachial ist.
Die ergreifende Hauptfigur, das originelle Setting, und nicht zuletzt Kings Sprache, die ich gerne lese, machten das Buch zu einem echten Lesevergnügen, wie ich es schon lange nicht mehr verspürt habe.
Somit ist »Fairy Tale« für mich ein Geniestreich und kein Geschwafel.
P.S.: Das war es noch nicht mit Charlie Reade. Der Vertrag für eine Verfilmung in Form einer TV-Serie ist bereits unter Dach und Fach. Ich jedenfalls freue mich darauf, nach Empis zurückzukehren.