Patrick Kingsley ist seit Anfang des Jahres 2015 der Migrationskorrespondent der britischen Tageszeitung The Guardian, und damit gewissermaßen der erste seiner Art: Der Journalist, schon vorher in Ägypten stationierter Auslandskorrespondent, konzentriert sich seitdem auf alle Ereignisse rund um das Thema Migration. Wie wir alle wissen, spitzte sich dann im Sommer 2015 die Flüchtlingskrise erheblich zu und es erwies sich, dass der Chefredakteur des Guardian in sehr weiser Voraussicht gehandelt hatte…
In Die neue Odyssee. Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise fasst Patrick Kingsley nun die Ereignisse, seine Erlebnisse und Erfahrungen des Jahres 2015 zusammen, um uns Glücklichen, die wir mit einem Dach über dem Kopf im sicheren Europa sitzen, möglichst begreifbar zu machen, warum so viele Menschen sich auf einen unglaublich gefährlichen und beschwerlichen Weg machen, wer sie sind, was sie antreibt und welchen Gefahren sie sich aussetzen.
Denn er sagt – garantiert zu Recht – dass wir noch so oft Fotos von überfüllten Schlauchbooten und drängenden Rettungsaktionen in den Medien sehen können. Wir können uns dennoch nicht vorstellen, was der direkte Anblick eines solchen Flüchtlingsbootes auslöst, geschweige denn, wie es denjenigen geht, die sich auf ihrem Kontinent so unsicher gefühlt haben, dass sie sich mit diesem wackeligen Gefährt auf das offene Meer begeben haben.
Sowohl für seinen Arbeitgeber als auch für dieses Buch ist Patrick Kingsley also den Routen der Flüchtlinge gefolgt:Er hat Zeit auf einem Rettungsboot der Organisation Ärzte ohne Grenzen e. V. verbracht, die in Seenot geratenen Flüchtlinge aus dem Mittelmeer rettet. Er hat es geschafft, mit Schleusern in Libyen und Ägypten zu sprechen. Er ist, wie Flüchtlinge aus Somalia oder Eritrea, quer durch die Sahara gereist – einer Strecke, die für viele als gefährlicher gilt als die Fahrt über das Mittelmeer. Er hat Flüchtlingsboote von der Türkei aus auf den griechischen Inseln ankommen sehen und hat Flüchtlingsgruppen an der serbischen und mazedonischen Grenze begleitet, als die Balkanroute der zweite Massenweg nach Europa wurde.
Der Autor und Journalist beschreibt in seinem Buch nicht nur die Zustände in den Herkunftsländern der Flüchtlinge und erklärt damit, warum sie keinen anderen Ausweg sehen als die Flucht. Er hat außerdem mit zahllosen Flüchtlingen, ehrenamtlichen Helfern, Grenzern und vielen anderen Menschen, denen die Fliehenden auf ihrem Weg begegnen, gesprochen. Er hat sich ihr Vertrauen erarbeitet und ist mit ihnen über schwierige Pfade gegangen.
So gibt er dem Leser Namen und Geschichten zu all den Gesichtern, die wir aus der Ferne in den Medien sehen.Er vermittelt all denen, die es noch nicht kapiert haben, dass dies alles verzweifelte und, aus dieser Verzweiflung heraus, mutige und unermüdliche Menschen sind, die auch nach mehreren Fehlversuchen immer wieder versuchen, weiter Richtung Nordeuropa vorzudringen. Egal welche Steine ihnen – von uns, von unseren Regierungen – in den Weg gelegt werden, sie sind nicht zu stoppen und das aus gutem Grund.
Einen besonderen Platz in Kingsleys Buch nimmt Haschem Al-Souki ein. Den Syrer und Vater von drei Kindern lernte der Journalist bereits in Ägypten kennen, wohin Haschem mit seiner Familie vor dem Bürgerkrieg geflohen war. Gemeinsam mit seiner Familie hatte er dann versucht, Ägypten Richtung Italien per Boot zu verlassen, sie wurden jedoch von der Polizei aufgehalten. Ein knappes Jahr später wagt Haschem die Überfahrt erneut, dieses Mal alleine. Er will es bis nach Schweden schaffen, wo zu dem Zeitpunkt die Chance, als Syrer eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten und die Familie relativ schnell nachziehen zu lassen, am größten war.
Patrick Kingsley begleitet ihn ab Italien auf diesem Weg, als sein Schatten, der Haschems Erfahrungen aufzeichnet und in diesem Buch mit all den anderen Geschichten verwebt, als beispielhafte Darstellung der zig Zuflucht suchenden Syrer.
Ich glaube, dass letztlich auch ein ganzes Buch voller Geschichten über Flüchtlinge und ihre Reisen uns nicht vollends vermitteln kann, was in ihnen vorgeht und wie verzweifelt und mutig sie sein müssen. Aber es ist die beste Möglichkeit, die wir haben, es ansatzweise zu verstehen – gerade für die, die immer noch daran zweifeln, dass alle diese Menschen vor wahrer Not fliehen und ihr Leben nur riskieren, weil sie es in ihrer Heimat noch viel größeren Gefahren ausgesetzt sehen.
Auch wenn diese Zweifel noch nie mein Problem waren, hat mir Die neue Odyssee sehr viel gegeben:Zahlreiche Hintergrundinformationen, die wir in dieser Detailliertheit und aus solcher Nähe in den Nachrichten (natürlich) nie geboten bekommen, nicht nur bezüglich des Nahen Ostens und Nordafrikas, sondern auch zu Ländern wie Somalia oder Eritrea. Einen genauen Einblick in die Entwicklung der verschiedenen Routen gen Europa – insbesondere der Balkanroute sowie die gefährliche Reise durch die Sahara, die für uns schon viel zu weit weg zu sein scheint, als dass Europa Zeit und Lust hätte, sich damit zu beschäftigen. Und nicht zuletzt natürlich die persönlichen Geschichten derjenigen, mit denen Kingsley sich unterwegs unterhält und die er wiedergibt.
Die neue Odyssee ist dabei unglaublich bewegend und eben auch sehr persönlich, aber genauso sachlich und ehrlich:Kingsley, den man wohl als einen der Europäer bezeichnen kann, die einen besonders großen Einblick in die Entwicklungen haben, gibt seinem Leser auch klare Statements mit auf den Weg, wie sich die Situation seiner Meinung nach weiter entwickeln wird, welche Maßnahmen tatsächlich helfen würden und dass er, leider Gottes, überhaupt keine Bereitschaft und Entwicklung in Richtung einer fruchtbaren Zusammenarbeit der Staatengemeinschaft sieht.
Auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin, wo Patrick Kingsley am 10. September über sein Buch gesprochen hat, sagte er, dass er auch nicht glaube, dass bei dem ersten UN-Gipfel zu Flucht und Migration mehr als viel Geschwafel herauskommen würde. Dieser hat gestern stattgefunden und – überraschenderweise – ist nurmehr eine unverbindliche Erklärung dabei herausgekommen, die mehr Schutz für Flüchtlinge, mehr Koordination und Zusammenarbeit fordert (dazu auch der Bericht der Tagesschau und die Pressemitteilung von Ärzte ohne Grenzen).