"Maus, der Comic meines Vaters, in dem er die Erfahrungen seiner Eltern in Auschwitz und weiteren Konzentrationslagern verarbeitet hatte, gewann den Pulitzer Preis, als ich fünf war. Im Licht dieses Preises erschien er der Welt überlebensgroß, so groß, dass sogar er selbst hin und wieder damit zu kämpfen hatte. Bei uns zu Hause war jedoch meine Mutter diejenige, die den längeren Schatten warf." (S.18)
Nadja Spiegelman ist die Tochter des Comiczeichners Art Spiegelman und der Art-Direktorin des New Yorker Françoise Mouly. Deswegen, so stellt sie relativ am Anfang ihres Romans fest, habe sie schon immer gewusst, wie es sich anfühle, als Protagonistin in einem Roman aufzutauchen. Als sie geboren wurde, markierte ihr Vater sie als Sternchen im Nachthimmel von "Maus". Im autobiographischen Debütroman der 30-jährigen kommt ihr Vater allerdings kaum vor. Stattdessen beleuchtet sie das komplizierte Verhältnis ihrer Mutter und ihrer Großmutter und die Machtkämpfe mit ihrer Mutter, während ihrer Pubertät und als junge Frau.
Ihre Mutter wird 1955 in Paris geboren. Eine Szene aus ihrer Kindheit erzählt sie ihrer Tochter Nadja immer wieder: Francoise versucht eine Zitronentarte zu backen. Ihre Mutter, ihr Vater und ihre Schwestern lachen sie aus, man bräuchte ja einen Hammer und eine Säge um das Stück Kuchen essen zu können. Doch bei dieser Demütigung bleibt es nicht. Francoise bekommt mit, wie die Ehe ihrer Eltern zerbricht, der Vater ist Schönheitschirurg und verkehrt in den Kreisen der High Society, auch ihre Mutter hat Affären und kümmert sich nicht um ihre Tochter - bis diese nach New York abhaut, versucht sich das Leben zu nehmen, überlebt, wieder an Depressionen leidet und am Ende eine erfolgreiche Karriere als Künstlerin und Leiterin eines Comicverlages antritt.
Das Verhältnis von Francoise und ihrer Mutter Josée war immer angespannt. Seit 2009 überlegte Spiegelmann ein Buch über ihre Mutter und ihre Großmutter zu schreiben und greift damit ein Thema auf, dass auch ihren Vater immer umtrieben hat: Familie.
Nadja Spiegelman beschreibt, wie viel Zeit es gekostet hat, dass ihre Mutter ihr mit ihrer Geschichte vertrauen konnte. Hat man als Leser*in gerade das Gefühl, ein Gespür für Joseé bekommen zu haben und sie als herrschsüchtige und dominante Figur eingeordnet, folgt Nadja in der Mitte des Romans einer Einladung Josées nach Paris, wo die ältere Dame auf einem Hausboot lebt. Enkelin und Großmutter verstehen sich wunderbar - und Josée erinnert sich ganz anders an die Erlebnisse ihrer starrsinnigen Tochter Francoise. Außerdem erzählt sie Nadja stattdessen von ihrer Kindheit und dem, was sie unter ihrer Mutter zu erleiden hatte.
Es ist spannend zu lesen, wie sehr sich die Erinnerungen dieser beiden wichtigen Frauenfiguren in Nadjas Leben unterscheiden.
Es gibt so viele blinde Flecken und so wenig Verständnis füreinander. Schon allein die Geschichte mit der Zitronentarte, die für Francoise zur lebenslangen Schmach wurde, erscheint in Josées Erinnerung als kleine Nichtigkeit, die niemanden lange interessiert hat. So unterschiedlich können Erinnerungen sein und so unzuverlässig ist letztlich das, was sich als prägender Moment in unserem Leben herauskristallisiert. Eine allgemein gültige Erkenntnis, die doch die Besonderheit dieses Romans ausmacht.
Auch wenn man nicht das Gefühlt hat, dass es sich um einen Roman handelt, in dem viel passiert, sind die Beziehungen untereinander häufig von Missverständnissen, gänzlich unterschiedlich wahrgenommenen Ereignissen und auch Vernachlässigung geprägt. Durch die Gespräche mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter gelingt es Nadja, neben den sich wiederholenden Mustern von Selbstbehauptung und Aufbegehren gegen die festgelegten Familienstrukturen, zwei faszinierende Frauen und ihre Lebensgeschichte zu beschreiben, die sich immer wieder auch gegen männliche Dominanz in ihrem Leben stellen mussten. Je länger man liest, desto mehr gewinnt man den Eindruck, beide, Mutter und Großmutter auf ihre ganz eigene Art zu verstehen. Und das ist faszinierend zu lesen.