Rezension zu "Die Wenigen und die Vielen" von Hans Sahl
Hans Sahl ist ein überraschend unbekannter Autor und dass obwohl er zahlreiche Auszeichnungen und Würdigungen, wenn auch erst spät, erhalten hat. Aber ein größeres Publikum konnte er in seiner Heimat nicht finden. Sahl, jüdischer Herkunft, flüchtet in den 1930er Jahren vor den Nazis durch halb Europa, um letztlich in den USA unterzukommen. Dort schrieb er ab 1943 an seinem autobiografischen Roman „Die Wenigen und die Vielen“. Doch erst 1959 konnte er dafür einen deutschen Verlag finden. Von geflüchteten Juden wollte man vorher und eigentlich auch hinterher nichts lesen. 2010 hat der Luchterhand Verlag das Buch dankenswerterweise neu aufgelegt. Aber auch heute reicht es nicht für eine weitere Auflage, so dass das Buch nur noch antiquarisch oder als E-Book zu bekommen ist.
Sahl lässt sich nur schwer politisch vereinnahmen, was ihn sein ganzes Leben lang zu einem Exilanten im Exil macht. Als Antifaschist hätte er von Sozialisten und Kommunisten gefeiert werden können. Doch war er auch Antikommunist oder eher Anti-Stalinist, was ihn auch aus den linksrevolutionären Kreisen der damaligen Zeit (bis in die 1970er) ausschloss. Und als Jude, der vor den Nazis geflohen und aus dem Exil schriftstellerisch tätig war, konnte er nicht einmal mit einer Holocaust-Geschichte aufwarten. Der durch und durch bürgerlich-liberale Schriftsteller, der auch in Die Wenigen und die Vielen, vor allem den Alltag beschreibt und keine große politische Analyse liefert, galt und gilt wohl als zu unspektakulär.
„Menschen brauchen ein Ideal, um mit gutem Gewissen morden zu können.“
Dabei bietet sein autobiografischer Roman eine herausragende Darstellung der Veränderung der deutschen Gesellschaft in den frühen Jahren der Naziherrschaft. Wie konnte es dazu kommen? War und ist die immer wieder gleiche Frage, die sich Menschen stellen. Die geschichtlichen Fakten sind bekannt. Die Abfolge der Ereignisse, die Gesetze, die Pogrome, die Gewalt und Willkür. Aber wie hat sich der Alltag angefühlt? Darüber geben zum Beispiel die Tagebücher von Viktor Klemperer Auskunft oder aktuell die Notizen von Anna Haag. Hans Sahls Roman bietet ebenfalls Zugang zum Alltag in Nazideutschland und Europa. Aus der Perspektive eines Deutschen. Eines deutschen Juden. Einem der Wenigen auf der Flucht vor den Vielen.
Der Vater wollte noch unbedingt für Deutschland am ersten Weltkrieg teilnehmen. Sein Vaterland. „Ich glaube, man muss sich jetzt freiwillig melden.“ 100.000 Juden kämpften zwischen 1914 und 1918 für das deutsche Militär. „Liebt nächst Gott das Vaterland!“ riefen die deutschen Rabbiner zu Kriegsbeginn 1914, um in ihren Gemeinden zu mobilisieren. Keine Generation später wurden die einstigen Helden erschlagen, erschossen und vergast.
Der Roman hat leider einen nicht ganz leichten Einstieg. Die tagebuchartigen Kapitel, die zwischen den Zeiten hin- und herspringen und die die durchaus zahlreichen Personen ohne Einführung erwähnen, können zu Beginn verwirren. Sahls Alter Ego Georg Kobbe muss vor den Nazis flüchten, erst nach Prag, dann in die Niederlande und schließlich nach Paris. Nur um dort als „Feind“ interniert zu werden. Später gelingt ihm die Flucht aus dem Lager und über Portugal die Fahrt nach Amerika. Es sind Geschichten, die in Deutschland kaum erzählt werden. Angesichts der Brutalität des Holocaust, erscheinen Fluchtberichte vermeintlich obszön.
Man kann das Raunen der Vielen in den 50er Jahren geradezu hören: Er hat doch überlebt, dazu noch im Exil, was will er denn? Man denke nur an Willy Brandt, der sich von Rechtsradikalen wie Strauß anhören musste: „Was haben Sie im Exil eigentlich getrieben?“ Und die Vielen skandierten: „Willy Brandt an die Wand, raus aus unserem Vaterland.“
„Hasse deinen Nächsten wie dich selbst“
Bedenkt man diesen teutonischen Furor noch in den 1970ern wundert es nicht, dass Hans Sahl kein Gehör fand. Aber umso mehr empört es, dass er auch heute noch, oder besser gerade heute, so wenig Gehör findet. Denn was er so grandios beschreibt, hat eine frappante Aktualität. Die Beschreibungen sind ein Fanal für die Gegenwart. Denn Vieles, was Sahl beobachtet hat, findet sich heute bei Anhängern der AfD und anderen Rechtspopulisten wie Rechtsextremen wieder. Die Wut und der Hass der vermeintlich zu Kurzgekommenen. Die Freude an der Gewalt und der Wille zur Macht. Die, „die nun ihren Selbsthaß, ihren Zorn auf das Bestehende, ihre Lust an der Zerstörung zur Würde einer Religion erhoben sahen.“
‚Erlöse uns!‘ schrien sie ihm entgegen. … ‚Ja ich werde euch erlösen!‘ sagte der Mann. Von nun an wird sich niemand mehr seiner Schlechtigkeit zu schämen brauchen.‘
Das ist der Kern der Altright, der Neuen Rechten, die im Gutmenschen ihren Feind auserkoren haben. Womit sich zeigt, dass die Neue Rechte die Alte Rechte ist. „Die Wenigen und die Vielen“ ist ein weiteres Mahnmal gegen die Verrohung, die Verwüstung der Moral. Und wie die vielen anderen Warnungen, wird auch diese von der Mehrheit ignoriert werden. Den Vielen sind die Wenigen egal. „Erlöse uns von uns selbst!“ rufen sie. Mehr wollen sie nicht. Zuschlagen, wenn einem die Worte fehlen. Demütigen, wenn man sich selbst minderwertig fühlt. Töten, wenn man sich bedroht fühlt. Krieg führen, um den eigenen Frevel zur Staatsräson zu erheben.
„Der Stärkere lachte. Im ganzen Land wurde jetzt der Stärkere gegen den Schwächeren ausgespielt. Dieser hier spürte seine neue Macht und kostete sie aus. Zuerst hatte er nur im Scherz nach der Holzlatte gegriffen. Aber dann war da etwas in dem Gesicht des andern, das ihn aufbrachte, ein leiser, menschlicher Zug um den Mund, etwas, das er kannte, das nach Angst aussah – und Angst – das war man selber – Angst musste totgeschlagen werden.“
Allein die Beschreibungen zwischen Seite 87 und 92 sind mit das Beste, was ich über die Entstehung und Veränderung der Persönlichkeits- und Gesellschaftsstruktur der frühen 30er Jahre gelesen habe.
„Man merkte es ihm an, daß er die Macht, die er über sie besaß, wie eine Auster schlürfte.“
Der Holocaust, die „chemische Vernichtung“, wird beiläufig eingewebt. Der Terror, der unfassbare Schrecken ist nicht greifbar, außerhalb des Vorstellungsvermögens und deshalb auch außerhalb der Bedeutung für den Alltag. Man erwähnt es wie die Wettervorhersage. Aha. Soso. Die Grausamkeit und Brutalität schleichen sich erst später unbewusst in das eigene Verhalten und Empfinden ein, werden Teil des Charakters. Der eine wird plötzlich zum Säufer, ein anderer erhängt sich und ein dritter sammelt Zwangshandlungen. Und es ist diese Ebene, des direkten Erlebens des Alltags, des alltäglichen Ausdrucks des menschlichen Miteinanders, die den Roman prägt und so besonders macht. Nicht die großen weltpolitischen Ereignisse stehen im Mittelpunkt, sondern wie diese sich im Menschen widerspiegeln. Sie müssen teilweise nicht einmal genannt werden. Aus den Reaktionen der Protagonist*innen werden die historischen Tatsachen deutlich.
Und wer auf der Flucht ist, hat andere Sorgen, als die Weltpolitik, die ich vor sich hertreibt.
„Wie oft bin ich schon durch Paris gelaufen, Worte im Mund kauend, sie auskostend, sie verschlingend, mich an Worten mästend, die Zunge gegen die Zähne reibend und zwischen den Zähnen ein Streichholz oder einen Zahnstocher, irgend etwas Hartes, auf das man beißen kann, wenn man sonst nichts mehr zu beißen hat.“
Es sind die Beschreibungen der shifting baselines, der langsamen Verschiebungen des Sagbaren, des Denkbaren, des Unsagbaren und des Undenkbaren, die den Roman so wertvoll und lehrreich machen. Es sind eben nicht nur Worte, nicht nur „Feelings“. Das Verschieben der Grenzen eröffnet Handlungsmöglichkeiten. Und es stehen immer radikale Fundamentalisten oder brutale Schläger bereit, diese neuen Möglichkeiten sofort zu ergreifen und sie nur neuen Realität zu machen.
„Ein Gedicht über die Liebe zu schreibe, erschien mir fast wie ein Verbrechen an denen, die in den Kerkern Europas umkommen. Unsere Liebe galt der Zukunft des Menschen, unsere Leidenschaften wurden im Kampf um seine Befreiung aufgebraucht.“
Hans Sahls Die Wenigen und die Vielen ist ein herausragender Roman über die Leiden der Exilanten, die Leiden der Flüchtenden und die Leiden der Überlebenden.