Rezension zu "Gesammelte Werke" von Lydia Sandgren
Ist es fair, als nicht schriftstellerisch tätige Person einen Debütroman zu kritisieren? Immerhin hat Lydia Sandgren 874 Seiten veröffentlicht und ich noch keine einzige.
Trotzdem: Dieser Roman mit unendlich vielen schwärmerischen Rezensionen ist überbewertet. Er stellt keine Hommage an die Literatur und Kunst dar - wieso schreiben das eigentlich immer alle? Im Roman geht es um Literatur und Kunst, das stimmt. Alle sind wahnsinnig literaturaffin oder künstlerisch oder beides. Aber praktisch nichts von dem, was den Hauptfiguren des Romans ständig in den Mund gelegt wird, besitzt Tiefe. Gespräche triefen vor pseudoklugen Stellungnahmen voller Bewertung. Das kann allerdings auch jemand sagen oder schreiben, der sich ein paar philosophische Werke mittels Blinklist und einer Google-Hintergrundrecherche reinzieht. Die meisten Dialoge werden dann auch oftmals auf locker-flockige, sehr abrupte Weise in der Luft hängengelassen. Das passiert auch bei diesen absurden und völlig nutzlosen ständigen Interviewsegmenten. Bitte, wofür?? Irgendwann hat mich das sehr genervt. Nichts wurde wirklich durchdrungen. So viele Szenen und Beschreibungen wirken vertraut, wie schon viele Male gelesen und gesehen - weil sie vor Klischees triefen. Genau so stellt man sich die Wohnung eines Künstlers vor, eine nächtliche Strassenszene in Paris, eine überarbeitete, überehrgeizige Intellektuelle in ihrer „klosterhaft anmutenden Wohnung“. Sie selbst sieht natürlich aus wie eine magere und sehr blasse russische Prinzessin im Fuchspelz. Klar.
Ich hatte als Grund für diese spürbare ständige Hohlheit zwei Szenarien im Kopf: Entweder ist Lydia Sandgren sehr klug und weitsichtig und nimmt diese ganze Szene auf die Schippe - grosse Klappe, wenig dahinter. (Natürlich sind trotzdem alle erfolgreich. Passt ja zum heutigen Zeitgeist.) Oder sie wollte unbedingt einen „grossen amerikanischen Roman“ schreiben (denn amerikanisch liest er sich), ohne selbst irgendetwas wirklich verstanden oder durchlebt zu haben. Da findet man so viel Abklatsch und leider nicht mal gut gemacht oder mit Augenzwinkern. Einfach so: Wird schon keiner merken, dass ich mich da mangels eigener Erfahrung oder nur oberflächlicher Recherche durchschummle. Sie war sehr jung beim Schreiben. Das erklärt auch, warum sich die Figuren im Lauf der Jahrzehnte kaum oder wieder sehr klischeehaft weiterentwickeln. Aus dem im Grunde seines Herzens konservativen, immer im Schatten des begabten Freundes stehenden Martin wird ein angepasster, überbehütender und zwanghafter Vater, der grosse Maler landet selbstverständlich im Suff und die schwedische Schönheit, die 5 Sprachen spricht und überhaupt alles kann, verdreht in der Fremde jüngeren Männern den Kopf, die dann natürlich einen Roman über ihr Davonlaufmuster schreiben.
Nichtsdestotrotz: Vom Schreibstil her liest sich “Gesammelte Werke“ gut. Ich mag, wie beispielsweise Roth und Franzen schreiben - und Lydia Sandgren schwimmt auf dieser Welle mit. Lang nicht so vielschichtig und smart, aber immerhin. Ausserdem mag ich Rakel, Martins Tochter, wirklich gern - wegen ihr habe ich das Buch auch zuende gelesen. Die letzten Seiten haben es dann auch geschafft, mich wirklich und tief zu berühren. „Gesammelte Werke“ ist eine Hommage, ja. An die Liebe. An ein Leben, in dem man der Liebe nicht den Stellenwert gibt, den sie verdient hat. An ein Leben, in dem man sich nicht traut, Liebe zu sein. Und: Es gibt einige Stellen, da spürt man: In der Autorin steckt mehr. Von daher wünsche ich mir in 10 Jahren wieder ein Buch von ihr.