Mein „Bitte mehr davon!“, mit dem ich meine Rezension zu DER LETZTE ZUG NACH SCHOTTLAND beendete, scheint erhört worden zu sein. Es freut mich immer sehr, wenn Verlage auf meine Wünsche so prompt reagieren. Nein, Scherz beiseite: An mir lag es sicherlich nicht, dass die Werke von Josephine Tey wieder auf der großen literarischen Spielwiese aufgetaucht sind. Die Lorbeeren für diesen Umstand gebühren der Autorin ganz und gar alleine: Ihre Kriminalromane sind einfach so gut!
Mit Inspector Alan Grant schuf sie einen sympathischen Ermittler, der mit klarem, analytischem Verstand agiert und auch in kritischen Situationen seine noble Haltung nicht verliert. Diese Haltung ist so unumstößlich mit ihm verwurzelt, dass scheinbar nichts und niemand (selbst Vorgesetzte beißen sich die Zähne aus) sie erschüttern könnte. Womit Tey einen markanten Archetypen etablierte, der im Laufe der Jahrzehnte durchaus so einige „Nachkommen“ vorweisen konnte – von P.D. James „Chief Inspector Adam Dalgliesh“ bis zu „Inspector Thomas Lynley“ von Elizabeth George. Und auch diesmal hat unser tapferer Recke ein kniffliges Rätzel zu lösen…
Die Bewohner von Salcott St Mary haben es nicht leicht. In dem einst beschaulichen Dörfchen haben sich die überspanntesten Künstler*innen Londons angesiedelt: Lavinia Fitch, Autorin romantischer Frauenromane, Bühnenstar Marta Hallard und Miss Easton-Dixon, die jährlich ein Buch mit Weihnachtsmärchen veröffentlicht, sind noch die Harmlosesten. Hinzu kommen der zwar populäre aber sehr von sich eingenommene Rundfunkjournalist Walter Whitmore, der exzentrische Dramatiker Toby Tullis, der verbitterte Balletttänzer Serge Ratoff und der hasserfüllte Schriftsteller Silas Weekley. Der Besuch eines kalifornischen Starfotografen mischt die Künstler*innenkolonie gehörig auf: Alle sind sich einig, dass von Leslie Searle eine schier übermenschliche Attraktivität ausgeht. Und dann verschwindet der geheimnisvolle Schöne spurlos. Alan Grant, Inspector von Scotland Yard und enger Freund von Marta Hallard, wird hinzugezogen. Beinahe jede*r der schrulligen Künstler*innen hätte ein Motiv – und keine*r hat ein Alibi. Aber wer von ihnen wäre raffiniert genug für einen so ausgeklügelten Mord, dessen Opfer sich in Luft aufgelöst zu haben scheint?
(Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)
Ich liebe es, wenn ich merke, dass ein*e Autor*in präzise arbeitet und sich die nötige Zeit nimmt, um die Charakteristika der jeweiligen Figuren zu etablieren bzw. während der fortlaufenden Handlung weiter zu entwickeln. Da wird den Personen die nötige Zeit gewährt, um „atmen“ zu dürfen. Ihnen wird nicht „nur“ der Text in den Mund gelegt, vielmehr werden ihnen – neben kuriosen Marotten und allzu menschlichen Schwächen – ebenso bewundernswerte Stärken und charmante Charakterzüge zugestanden. Es wird ihnen sozusagen „Leben eingehaucht“.
Dies gelingt Josephine Tey so abwechslungsreich und vielschichtig, dass bei der Lektüre keinerlei Langeweile auftaucht. Ganz im Gegenteil: Plot und Figuren sind so prall und spannend kreiert, dass ich anfangs weder den Kriminalfall noch den Kriminalisten vermisste. Abermals bricht sie mit den traditionellen Krimi-Gewohnheiten, indem sie weniger der eigentlichen Tat als vielmehr dem inszenierten Handlungsrahmen den nötigen Raum zur Entfaltung bietet. Sie lässt uns direkt am Geschehen teilhaben. Wir sind als stille Beobachter direkt vor Ort und somit gegenüber unserem Helden im Vorteil. Oder sollte ich sagen „scheinbar im Vorteil“? Obwohl wir alles „gesehen und gehört“ haben, verfügen wir nicht über die brillanten analytischen Kompetenzen von Inspector Alan Grant, um aus den vielen Einzelteilen ein stimmiges Gesamtbild zu zaubern. Wie gut, dass wir solche Kompetenzen nicht besitzen, denn ansonsten bräuchten wir diesen Krimi nicht zu lesen.
Ebenso, wie ich die Präzision der Autorin liebe, erfreue ich mich immer wieder gerne an wunderbare Frauen-Porträts, die zur Entstehungszeit des Romans weit entfernt vom gängigen Klischee waren und somit nicht dem damaligen Frauenbild entsprachen. Tey etablierte eine Schar sehr selbstbestimmter, emanzipierter Frauen – allen voran die aparte Schauspielerin Marta Hallard, die glücklicherweise zum wiederholten Male ein Gastspiel neben Alan Grant geben durfte. Doch es taucht noch ein weiteres interessantes Frauen-Profil in diesem Roman auf: Einzelheiten werden nicht verraten, da diese für die Handlung von entscheidender Bedeutung sind und somit viel von der Spannung nehmen würden.
Apropos Spannung: Ich hoffe, dass ich nicht allzu viel verrate, wenn ich erwähnen, dass dieser Krimi – ähnlich wie schon bei NUR DER MOND WAR ZEUGE und ALIBI FÜR EINEN KÖNIG – gänzlich ohne Leiche auskommt. Nun mag sich vielleicht die eine oder der andere aus meiner Leserschaft fragen „Ist ein Krimi ohne Leiche überhaupt ein Krimi?“, denen rufe ich voller Überzeugung zu…
„Aber natürlich, und dies sogar ganz und gar famos!“