Rezension zu "Er, Sie und Es" von Marge Piercy
Manchmal, ja manchmal verstehe ich selbst nicht, warum manche Bücher länger im Regal stehen bleiben und warum ich manche sofort lese. Ich habe hier auch noch kein Muster erkannt, denn selbst neue Teile von Serien lese ich nicht unbedingt sofort. Aber sei es drum, denn worauf ich hinaus will: ich kann nicht erklären, warum ich dieses Buch so lange nicht lesen wollte, aber es hat mich eine ganze Weile abgeschreckt. Wegen seiner Dicke oder weil es kein Krimi ist? Wer weiß, aber letztendlich war das mal wieder völlig unnötig. Marge Piercys Zukunftsvision ist schon vor 20 Jahren erschienen und wurde nun vom Argument Verlag in einer korrigierten Neufassung herausgegeben.
Die Welt von 2059 bietet den Menschen drei Arten zu leben, wenn auch nicht frei wählbar: Als Mitarbeiter eines Multis (Multikonzern), in einer der wenigen freien Städte oder im Glop. Der Nahe Osten wurde im 14tägigen Krieg ausgelöscht, die Umwelt nahezu zerstört. Die Menschen leben zumeist unter Kuppeldächern oder mit Schutzhäuten um sich vor der Sonnenstrahlung zu schützen, echte Nahrung kann sich im Glop kaum einer leisten, doch zwei Multis produzieren leckere (!) Ersatznahrung aus Algen für die Armen. Politische Strukturen sind keine mehr zu finden, einzig die Ökopolizei scheint eine übergreifende Position zu haben – der Rest der Welt wird von den Multis allein durch ihre wirtschaftliche Macht kontrolliert.
Dieses Szenario legt die Autorin der Geschichte von Shira, Malkah und Yod unter, es nimmt nämlich keinen Fokus ein. Es ist immer präsent und die Autorin streut immer wieder neue Facetten ihres Blickes in die Zukunft ein, doch ganz nebenbei. Auch die jüdische Geschichte sowie der jüdische Glauben nehmen einen Großteil der Geschichte ein, doch dazu kehre ich später nochmal zurück.
Shira kündigt bei dem Multi Y-S als dieser, patriarchalisch geführt, das Sorgerecht für ihren Sohn Ari ihrem Exmann gibt. Sie kehrt zurück in ihre Heimat, die freie Stadt Tikva, und zu ihrer Großmutter Malkah, die sie aufgezogen hat. Sie bekommt einen Job bei Avram, einen ganz besonderen: die Sozialisierung eines Cyborgs, an dem Avram und Malkah heimlich gearbeitet haben, denn Roboter, die menschlich aussehen, sind verboten. Und dieser Cyborg heißt Yod.
Das Buch enthält zwei Erzählstränge: ein Strang wird aus Sicht Shiras erzählt, der andere enthält eine Geschichte, die Malkah Yod erzählt. Nachts, per Com. Die Geschichte um Rabbi Löw und den Golem von Prag. Golem und Cyborg – die Ähnlichkeit ist frappierend. Beide dem Aussehen nach Menschen doch der eine aus Lehm, der andere aus Schaltkreisen. So dreht sich alles um die Frage, ob ein Cyborg (oder ein Golem) eine Person ist und die gleichen Rechte hat. Denn nach und nach werden diese beiden sich ihrer Identität bewusst und fordern ihre Rechte: unabhängig leben, Liebe, Gehalt, Entscheidungen treffen. Von großen bis hin zu banalen Dingen. Doch wer entscheidet, ob ein Cyborg als Mensch behandelt werden kann? Oder ein Golem? Im späten Mittelalter entscheidet es Rabbi Löw, doch wie sieht es für Yod aus?
Zugegeben, auch wenn die Geschichte von Joseph, dem Golem, und Rabbi Löw Parallelen zieht und Denkanstöße gibt, habe ich diese Kapitel nicht so gerne gelesen – ich wollte in der Zukunft bleiben. Insgesamt war das Buch von einer leichten Spannung durchzogen, denn natürlich bleibt Yod nicht unentdeckt, dafür aber sehr begehrt. Doch das Buch unterscheidet sich deutlich von den meisten Dystopien, die ich bisher gelesen habe. Es fängt schon damit an, dass ich es keinesfalls eine Dystopie nennen würde, auch wenn die Welt sich zum Negativen verändert hat. Das Buch enthält eine positive Grundstimmung und ist durchsetzt mit der Frage, wie ein Mensch sich definiert und inwieweit eine Maschine ein Mensch sein kann, vor allem in Hinblick auf ein weiteres Detail dieser Zukunftsversion: den chirurgischen und kosmetischen Änderungen, denen sich die Menschen entweder aus gesundheitsbedingten oder gesellschaftlichen Gründen unterwerfen.
Tikva ist eine freie Stadt, eine jüdische Stadt. Die jüdische Religion, die Gebräuche und Festtage, Gebete und Gedenktage werden hoch gehalten und haben ihren Platz im Buch, präsenter als die Zukunftsvision. Das mag daran liegen, dass ein Großteil der Handlung in dieser abgeschlossenen Enklave spielt, die sich zu unserer heutigen Zeit noch relativ ähnlich zeigt. Israel mag zerstört sein, doch die Juden zeigen sich als die Überlebenskünstler, die sie immer waren und sein mussten. Jeder Multi hat andere Regeln und Gebräuche, gleich einer Religion, doch durchsetzt mit Macht. Politik, Wirtschaft und Religion ist hier unheilbringend vermischt. Doch Widerstand regt sich, nicht nur in Tikva.
Aber „Er, Sie und Es“ ist kein Thriller, es ist ein Denkanstoß, eingebettet zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Druck und Widerstand, zwischen Macht und Freiheit. Die Frage, die man sich stellen muss, ist, wann ein Mensch ein Mensch ist. Roboter und künstliche Intelligenz – wie weit sind wir bereit zu gehen? Werden wir – wir Menschen – wenn es soweit ist, Roboter und Cyborgs als unseresgleichen anerkennen? Ist es die Weiterentwicklung unserer Spezies? Die Zukunft?
Doch neben diesen elementaren Fragen, die man eine Weile nicht mehr los wird, findet sich eine grandiose Zukunftsvision, bei der ich es jetzt schon schade finde, nicht mehr zu erfahren – und vor allem nicht zu wissen, wie es weiter geht. Nein, nein, das Buch hat ein Ende, keine Sorge. Trotzdem steht die Welt am Anfang eines neuerlichen Wandels, wenn man das Buch zuklappt. Und auch wenn ich ein Verfechter der Einteiler / Standalones bin, finde ich es diesmal sehr schade, dass ich diese Vision nicht weiter kennenlernen darf.
Fazit:
Eine Zukunftsvision, die mich sehr begeistert hat, liefert die Basis für eine Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Menschsein. Ein überaus lesenswertes Buch!