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ClaudiasWortwelten

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Cover des Buches Was ich getan habe (ISBN: 9783442715121)

Bewertung zu "Was ich getan habe" von Anna George

Was ich getan habe
ClaudiasWortweltenvor 7 Jahren
Kein Thriller, sondern vielmehr ein Ehedrama, dem es leider an Spannung und Tiefgang fehlte

Inhalt:

"Mein Name ist David James Forrester. Ich bin Anwalt. Heute Abend um 18 Uhr 10 habe ich meine Frau getötet. Dies ist meine Aussage."

Der erfolgreiche Anwalt David Forrester hat gerade seine Frau Elle getötet. Sie liegt tot in der WaschkĂŒche ihres gemeinsamen Hauses. Mit dem DiktiergerĂ€t in der Hand irrt David nun verzweifelt durch Melbourne, nimmt seine Aussage auf und ĂŒberlegt sich eine Verteidigungsstrategie. Dabei lĂ€sst er die vergangenen zwei Jahre noch einmal Revue passieren. Er konnte sein GlĂŒck kaum fassen, als er Elle damals kennenlernte und nach seiner gescheiterten Ehe mit zweiundvierzig Jahren noch einmal eine neue Liebe fand. Ihre Beziehung war leidenschaftlich, geradezu obsessiv, und David war hingerissen von der Schönheit, Intelligenz und StĂ€rke seiner Frau. Er hatte sie geliebt, also wie konnte es ĂŒberhaupt soweit kommen?

Meine persönliche Meinung:

Ich weiß nicht, wie viele BĂŒcher inzwischen mit einem Verweis auf Gone Girl von Gillian Flynn beworben werden, um die Verkaufszahlen anzukurbeln – Anna Georges DebĂŒt Was ich getan habe ist jedenfalls wieder einmal eines davon. Es war allerdings nicht dieser Hinweis, sondern eher der Klappentext, der mich auf diesen Thriller neugierig machte, denn obwohl mir Gone Girl ganz gut gefallen hat, fand ich den Roman nicht so herausragend, dass ich nun zwingend nach einer vergleichbaren LektĂŒre Ausschau halten mĂŒsste. Trotzdem schĂŒrt ein solcher Vergleich mit einem bekannten Bestseller natĂŒrlich eine gewisse Erwartungshaltung, der das Buch dann auch gerecht werden sollte. Sieht man davon ab, dass auch Gone Girl in weiten Teilen eher ein Ehedrama als ein Thriller ist, konnte ich allerdings keinerlei Gemeinsamkeiten feststellen. Immerhin konnte Gone Girl ja mit ein paar Thriller-Elementen, prĂ€zise ausgearbeiteten Charakteren und vor allem einem fulminanten Plottwist aufwarten, aber all das hat Anna Georges DebĂŒt nun leider gefehlt. Warum Was ich getan habe ĂŒberhaupt als Thriller bezeichnet wird, ist mir vollkommen schleierhaft, denn ich konnte nicht einmal im Ansatz irgendwelche Thriller-Elemente feststellen und auch an Spannung mangelt es diesem Buch leider gewaltig.
Es ist natĂŒrlich nicht ganz einfach, einen Spannungsbogen aufzubauen, wenn schon im ersten Satz enthĂŒllt wird, wer der Mörder ist. Zahlreiche Thriller und Kriminalromane, in denen der TĂ€ter von Anfang an bekannt ist, beweisen allerdings, dass dies trotzdem gelingen kann, denn viel spannender und interessanter als die IdentitĂ€t des Mörders ist hĂ€ufig eben sein Motiv und die Frage, was ihn ĂŒberhaupt zum Mörder werden ließ. Gerade das hĂ€tte mich auch in diesem Thriller besonders interessiert, zumal betont wird, dass David Forrester seine Frau geliebt hat. Trotzdem hat er sie getötet, sodass die Frage nach dem Warum der eigentliche Kern der ErzĂ€hlung ist.
Die Geschichte wird abwechselnd aus drei Perspektiven erzĂ€hlt. Zum einen begleitet man David, der nach dem Mord an seiner Frau durch Melbourne irrt und dabei seine Aussage auf ein DiktiergerĂ€t spricht; zum anderen kommt aber auch seine Frau Elle zu Wort, die quasi aus ihrem Körper herausgetreten ist, nun in der WaschkĂŒche ihres Hauses auf ihren leblosen Körper und ihre verrenkten Gliedmaßen herabblickt und sich dabei ebenfalls an die Geschehnisse der vergangenen zwei Jahre erinnert. Das ist leider nur sehr schwer nachvollziehbar, aber dennoch liefert Elles Perspektive sehr erschĂŒtternde Einblicke in ihre Beziehung zu David und die tatsĂ€chliche Beschaffenheit ihrer Ehe. Aber auch Elles beste Freundin Mira kommt zu Wort, denn sie versucht verzweifelt, Elle zu erreichen, macht sich große Sorgen um sie und ahnt, dass David ihr etwas angetan hat, denn Mira hat dem Mann ihrer Freundin noch nie getraut.
Der Aufbau der ErzĂ€hlung, der geschickte Perspektivwechsel und auch der etwas außergewöhnliche Schreibstil der Autorin haben mir ausgesprochen gut gefallen, aber leider ist es Anna George nicht gelungen, Spannung aufzubauen und ihren Protagonisten Tiefe zu verleihen. Vor allem das Verhalten von Elle war fĂŒr mich leider absolut nicht nachvollziehbar. Dies lag nicht nur an ihrer etwas unrealistischen Perspektive außerhalb ihres Körpers, sondern vor allem auch daran, dass mir vollkommen schleierhaft war, was sie an David liebte und auf welcher Basis diese Ehe ĂŒberhaupt geschlossen wurde. Ich konnte nicht ansatzweise etwas erkennen, was ich unter den Begriff Liebe fassen wĂŒrde. Mir ist durchaus klar, dass sich manche Frauen auch zu MĂ€nnern hingezogen fĂŒhlen können, die sie schlecht behandeln, aber selbst das wurde nicht deutlich genug herausgearbeitet. Auch die sexuelle Komponente dieser Beziehung, die zumindest zu Beginn noch klar im Vordergrund steht und in einer Detailliertheit geschildert wird, die ich eher abstoßend als erotisch fand, verpuffte rasend schnell wieder, sodass auch eine wie auch immer geartete Hörigkeit, Obsession oder besonders erotische Leidenschaft fĂŒr mich nicht ersichtlich war. Obwohl Elles Schicksal wirklich erschĂŒtternd ist, gelang es mir nicht, mit ihr mitzufĂŒhlen oder mich in sie einzudenken, weil sie mir einfach fremd blieb.
Aber auch David war leider nicht besonders vielschichtig gezeichnet, was sehr bedauerlich ist, denn eigentlich ist der TĂ€ter die interessanteste Figur in einem Thriller. Auch wenn man seine Tat nicht gutheißen kann, möchte man seine Motivation verstehen, will wissen, warum er zum Mörder geworden ist, denn obwohl dies nichts entschuldigt, erhofft man sich doch wenigstens eine ErklĂ€rung. Es kommt in Thrillern ja sehr hĂ€ufig vor, dass sich ein vermeintlicher Traumprinz plötzlich als gefĂ€hrlicher Psychopath entpuppt oder man den Mörder, den man eigentlich verabscheuen mĂŒsste, auf geradezu erschreckende Weise sogar verstehen kann. Solche verstörenden Momente machen letztendlich den Reiz eines psychologisch ausgefeilten Thrillers aus und sorgen fĂŒr die nötige Spannung. Was ich getan habe wĂ€re durchaus so angelegt und die Geschichte hĂ€tte auch das Potenzial fĂŒr solche Schockmomente, scheitert letztendlich aber an ihren eindimensionalen und flachen Figuren, denn nicht nur Elle, sondern auch David sind einfach nicht komplex und prĂ€zise genug ausgearbeitet, um ihre GefĂŒhle, Gedanken und Handlungsmotive nachvollziehen zu können. Nach den ersten Kapiteln stellte ich mir jedenfalls nicht mehr die Frage, warum David seine Frau getötet hat und diese Beziehung so fatal enden musste, sondern nur noch warum sie ĂŒberhaupt eingegangen wurde. HierfĂŒr liefert die ErzĂ€hlung allerdings keine ErklĂ€rung, weder aus Davids noch aus Elles Perspektive.
Die einzige Protagonistin, deren Sichtweise mir einleuchtete, war die von Mira, Elles bester Freundin, denn sie ist die Einzige, die einen klaren Blick auf die Dinge hat.
Der Plot war so vorhersehbar, dass einfach keine Spannung aufkommen wollte, Überraschungsmomente blieben weitgehend aus und auch auf einen Plottwist wartete ich vergeblich. Sieht man von einer einzigen Wendung am Ende der Geschichte ab, die allerdings wenig ĂŒberraschend war, aber immerhin eine logische ErklĂ€rung fĂŒr so manche Ungereimtheit lieferte, hatte Was ich getan habe leider ĂŒberhaupt nichts mit einem Thriller gemeinsam. DarĂŒber könnte man hinwegsehen, wenn dieses Ehedrama wenigstens etwas tiefgrĂŒndig und einfĂŒhlsam erzĂ€hlt worden wĂ€re, aber den Protagonisten fehlte es leider an der notwendigen psychologischen Tiefe, und so war mir leider nicht ersichtlich, welche Motivation hinter ihren Handlungen und Emotionen steckt. Das ist wirklich bedauerlich, denn die Geschichte hĂ€tte durchaus Potenzial und der Schreibstil der Autorin wirkte ansonsten sehr ausgereift und ließ sich ausgesprochen angenehm lesen. Trotzdem war ihr DebĂŒt fĂŒr mich leider eine ziemliche EnttĂ€uschung.

Cover des Buches Unvollkommene Verbindlichkeiten (ISBN: 9783630875248)

Bewertung zu "Unvollkommene Verbindlichkeiten" von Lena Andersson

Unvollkommene Verbindlichkeiten
ClaudiasWortweltenvor 7 Jahren
Ein kluger und poetischer Roman ĂŒber die Qualen der Liebe - schonungslos und grandios erzĂ€hlt

Im vergangenen Jahr habe ich Widerrechtliche Inbesitznahme von Lena Andersson gelesen und war vollkommen ĂŒberwĂ€ltigt. Auch nach der LektĂŒre hat mich dieser kluge philosophische Roman ĂŒber das UnglĂŒck der Liebe noch lange beschĂ€ftigt und auch sehr nachdenklich und traurig gestimmt, denn es ist mitunter schmerzhaft, wenn eine Autorin einem den Spiegel vorhĂ€lt und man sich in einer Romanfigur wie Ester Nilsson wiederzuerkennen glaubt, die gegen alle Regeln des gesunden Menschenverstandes verstĂ¶ĂŸt und die man, wĂ€re sie eine gute Freundin, am liebsten schĂŒtteln und zur Vernunft bringen wĂŒrde. Gleichzeitig hat es aber auch etwas Tröstliches, sich in einem Roman wiederzufinden und kann durchaus dabei helfen, sich selbst ein bisschen besser zu verstehen, zumindest dann, wenn man schon einmal in einer Ă€hnlichen Situation war wie Ester Nilsson. Ich konnte es jedenfalls kaum erwarten, zu erfahren, wie es Ester inzwischen ergangen ist und freute mich darauf, ihr in Lena Anderssons neustem Werk Unvollkommene Verbindlichkeiten nun wieder zu begegnen. Obwohl hĂ€ufig auf Widerrechtliche Inbesitznahme Bezug genommen wird, muss man den VorgĂ€nger im Vorfeld nicht gelesen haben, um der Handlung folgen zu können, aber man sollte diesen wunderbaren, klugen und poetischen Roman gelesen haben, weil er einfach brillant ist und auch, weil man die Protagonistin dann vielleicht ein bisschen besser verstehen kann.
In Widerrechtliche Inbesitznahme hatte sich Ester Nilsson in den narzisstischen KĂŒnstler Hugo Rask verliebt, war diesem Mann hoffnungslos verfallen, gab sich zwar stets selbstbewusst und souverĂ€n, hatte ihre Autonomie allerdings lĂ€ngst eingebĂŒĂŸt und lebte nur noch fĂŒr ihn und die Momente, die sie mit ihm verbringen konnte. Hugo genoss ihre Bewunderung, war allerdings nicht in der Lage so viel IntimitĂ€t und NĂ€he zuzulassen oder ĂŒberhaupt ĂŒber GefĂŒhle zu reden. Trotzdem nutzte er ihre Liebe schamlos aus, versprach ihr zwar nie etwas, verstand es allerdings geschickt, Esters Hoffnung immer wieder neue Nahrung zu geben, indem er ihr gerade so viel Aufmerksamkeit schenkte, wie notwendig war, um ihre bedingungslose Liebe am Leben zu erhalten. Er ließ sie stets im Ungewissen und stieß sie, als sie zunehmend fordernder wurde, erbarmungslos und ohne ein Wort der ErklĂ€rung von sich. Obwohl sie an dieser Liebe fast zerbrochen wĂ€re und sich geschworen hatte, nie wieder in eine solche emotionale AbhĂ€ngigkeit zu geraten, verliebt sie sich nun, fĂŒnf Jahre spĂ€ter, erneut – diesmal in Olof Sten, einen verheirateten Mann, der ihr unverblĂŒmt klarmacht, dass er sich niemals von seiner Frau trennen wird. Nach ihrer schmerzhaften Erfahrung mit Hugo Rask hĂ€tte ich ihr natĂŒrlich gewĂŒnscht, dass sie nun endlich ihr GlĂŒck findet und einem Mann begegnet, der ihre Liebe erwidert. Allerdings ahnte ich schon, dass sie wieder auf einen Mann treffen wĂŒrde, der sich nicht festlegen will, und sie sich erneut Hoffnungen hingibt, die sich niemals erfĂŒllen werden.
Aber was bringt eine gebildete Frau Ende dreißig dazu, sich schon wieder so zu verrennen? Es ist mitunter kaum zu ertragen, mitanzusehen, wie sie sich von Olof demĂŒtigen und verletzen lĂ€sst, sich immer wieder erniedrigt und trotzdem nicht loslassen kann. Wieder verliert sie sich selbst vollkommen aus den Augen und richtet ihr ganzes Leben so ein, dass sie Olof immer, wenn es seine begrenzte Zeit zulĂ€sst, zur VerfĂŒgung stehen kann.
Esters Absolutheitsanspruch an die Liebe ist ungebrochen und verleitet sie eben auch dazu, wieder in alte Verhaltensmuster zurĂŒckzufallen. Und wieder ist es diese trĂŒgerische und alles verzehrende Hoffnung, die sie erneut in eine emotionale AbhĂ€ngigkeit zu einem Mann geraten lĂ€sst, der sich nicht eindeutig verhĂ€lt, sie zwar nicht will, aber eben auch nicht gehen lĂ€sst.
Man könnte sich also fragen, ob sie aus ihrer Erfahrung mit Hugo Rask nichts gelernt hat. Vermutlich kann man Ester nur verstehen, wenn man schon einmal in einer Ă€hnlichen Situation war. Dass Liebe nicht erwidert wird, ist wahrscheinlich jedem schon einmal passiert. Wenn Liebe ins Leere fĂ€llt, ist das zwar schmerzhaft, kann man aber niemandem verĂŒbeln, denn Liebe kann nicht erzwungen werden. Niemand hat ein Recht darauf, geliebt zu werden, das weiß auch Ester Nilsson, aber jeder hat ein Recht auf Klarheit, denn nichts ist quĂ€lender als Ungewissheit und Hoffnung, die sich niemals erfĂŒllen wird.
Man kann Ester kaum vorwerfen, dass sie sich wieder Hals ĂŒber Kopf verliebt, zumal wir uns nicht immer aussuchen, wen wir lieben, denn sich zu verlieben ist keine Entscheidung, die man bewusst trifft. Es soll ja sehr reflektierte Kopfmenschen geben, die auch bei der Partnerwahl sehr systematisch und ĂŒberlegt vorgehen und sich dabei nur von ihrem Verstand leiten lassen, aber in aller Regel ist Liebe eben ein GefĂŒhl, das sich rational nicht erklĂ€ren lĂ€sst und dem mit Vernunft auch kaum beizukommen ist. Deshalb ist es auch nicht erstaunlich, dass der Freundinnenchor, der Ester bereits in Widerrechtliche Inbesitznahme unablĂ€ssig zur Vernunft mahnte, auch jetzt nicht zu ihr durchdringen kann. Doch wĂ€hrend der Freundinnenchor damals noch anonym war, haben die Freundinnen nun Namen bekommen, was allerdings nichts daran Ă€ndert, dass ihre gutgemeinten RatschlĂ€ge ungehört verhallen.
„Nimm die Menschen beim Wort, das ist das Praktischste und Einfachste. Nicht deuten, sondern davon ausgehen, dass sie meinen, was sie sagen“. Nun, hĂ€tte sich Ester diesen Rat ihrer Freundin Lotta zu Herzen genommen, wĂ€re ihr viel erspart geblieben, denn man muss Olof immerhin zugutehalten, dass er – im Gegensatz zu Hugo Rask – von Anfang an Klartext spricht und ihr deutlich sagt, dass er seine Ehefrau niemals verlassen wird. Trotzdem lĂ€sst er sich auf eine Beziehung mit ihr ein, die er zwar „Freundschaft“ nennt, aber weit ĂŒber ein freundschaftliches VerhĂ€ltnis hinausgeht. Da sich Esters unbedingter Absolutheitsanspruch an die Liebe aber niemals mit einer Rolle als Geliebte in Einklang bringen lĂ€sst, ist es nur logisch ist, dass sie wieder unglĂŒcklich sein wird.
Olofs klare Worte stehen im Widerspruch zu seinem Verhalten, womit er Ester immer wieder Anlass zur Hoffnung gibt. Und Ester ist eben auch eine Meisterin der SelbsttĂ€uschung, will nicht wahrhaben, dass er sich niemals von seiner Frau trennen wird und neigt dazu, sich verzweifelt an jedem kleinen Strohhalm festzuhalten. Sie seziert und analysiert jedes Wort und jede SMS von Olof und kommt dabei immer wieder zu der Überzeugung, dass sich seine Ehe in der Auflösung befindet und er nur noch etwas Zeit braucht, um seine Ehefrau endgĂŒltig zu verlassen.
Ester ist zweifellos in mehrfacher Hinsicht eine „WiederholungstĂ€terin“, aber dennoch kann man nicht behaupten, dass sie aus ihrer Beziehung zu Hugo Rask nichts gelernt hat. Damals gab sie sich zunĂ€chst noch souverĂ€n und selbstbewusst, wollte Hugo nicht unter Druck setzen und niemals fordernd erscheinen. Bei Olof will sie diesen Fehler nicht noch einmal machen, sondern von Anfang an deutlich sein und sagt ihm deshalb auch sofort, dass sie ihr Leben mit ihm teilen will. Durch ihre bisherigen Erfahrungen hat sie inzwischen offenbar auch einen Teil ihrer LeidensfĂ€higkeit eingebĂŒĂŸt, denn wĂ€hrend sie bei Hugo Rask noch dachte, das Leiden an der Liebe sei eine noble Sache und sie mĂŒsse nur genug leiden, um sich seine Liebe zu verdienen, kommt sie bei Olof nun doch hĂ€ufig zu der Überzeugung, dass sie sich ihr Leben nicht von ihm stehlen und sich auch nicht lĂ€nger demĂŒtigen lassen will. Und so fasst sie ĂŒberraschenderweise tatsĂ€chlich wiederholt den Entschluss, sich von ihm abzuwenden. Doch sobald sie im Begriff ist, sich von ihm zu lösen, ergreift er die Initiative und nimmt wieder Kontakt zu ihr auf, denn: „Wie so viele andere konnte er es nicht ertragen, das zu verlieren, was er gar nicht haben wollte“. Obwohl er sich nicht auf sie festlegen möchte, ist er nicht bereit, sie gehen zu lassen. Und obwohl sie wiederholt versucht, sich aus seinen FĂ€ngen zu befreien, hat sie nicht die Kraft, ihm zu widerstehen, wenn er wieder vor ihr steht oder sich bei ihr meldet.
Letztendlich befindet sich Ester mit Olof in einer jahrelangen On-Off-Beziehung, durchlebt ein dauerndes Wechselbad der GefĂŒhle und schwankt stĂ€ndig zwischen Hoffnung und Verzweiflung, GlĂŒck und Leid, IntimitĂ€t und Distanz, völliger Hingabe, aber auch Wut auf den Mann, der ihr das alles zumutet. Der Leser durchlebt und durchleidet all diese Hoch und Tiefs an ihrer Seite mit, ahnt, dass es keine Erlösung geben wird, sondern wĂŒnscht sich einfach nur, dass es ihr gelingt, endlich aus ihrer passiven Rolle herauszutreten und sich aus dieser zerstörerischen Liebe zu befreien. Am Ende hat mich Ester aber doch sehr ĂŒberrascht, denn sie holt zu einem Befreiungsschlag aus, den ich ihr niemals zugetraut hĂ€tte.

Zweifellos ist Lena Andersson mit Unvollkommene Verbindlichkeiten wieder ein Meisterwerk gelungen, das seinem VorgĂ€nger literarisch in nichts nachsteht. In einer sehr schlichten, lakonischen aber gleichzeitig auch sehr poetischen Sprache erzĂ€hlt die Autorin eine Ă€ußerst desillusionierende Liebesgeschichte. Schonungslos und vollkommen ohne Kitsch, SentimentalitĂ€t, Romantik oder Pathos dokumentiert sie die GefĂŒhlwelt einer Frau, die sich zum wiederholten Male in einen Mann verliebt, der ihre Liebe nicht erwidert, aber die ihm entgegengebrachten GefĂŒhle ausnutzt und sich nicht eindeutig verhĂ€lt. Trotz des mitunter ironischen Untertons und einer gewissen SĂŒffisanz ist dies manchmal nur sehr schwer zu ertragen, aber trotzdem grandios, denn kaum ein Schriftsteller vermag es, die Liebe so gekonnt und intelligent ihres Zaubers zu berauben und romantische Liebeskonzepte so analytisch zu zerpflĂŒcken wie Lena Andersson. Das hat mich bereits bei Widerrechtliche Inbesitznahme beeindruckt und zeigt sich nun auch wieder in Anderssons neustem Werk.
Wer den VorgĂ€nger gelesen hat, könnte von Unvollkommene Verbindlichkeiten allerdings ein wenig enttĂ€uscht sein, denn sieht man von dem verblĂŒffenden Ende ab, hat dieser Roman leider wenig Neues oder Überraschendes zu bieten. Ich wĂŒrde die ErzĂ€hlung zwar nicht gerade als Wiederholung, aber in weiten Teilen eben nur als Abwandlung dessen bezeichnen, was der Leser bereits aus Widerrechtliche Inbesitznahme kennt. Der ĂŒberragenden QualitĂ€t dieses Romans tut dies jedoch keinen Abbruch. Ein grandioses Meisterwerk!

Cover des Buches Into the Water - Traue keinem. Auch nicht dir selbst. (ISBN: 9783764505233)

Bewertung zu "Into the Water - Traue keinem. Auch nicht dir selbst." von Paula Hawkins

Into the Water - Traue keinem. Auch nicht dir selbst.
ClaudiasWortweltenvor 7 Jahren
Eine bewegende und komplexe Geschichte, die mich trotz des recht zĂ€hen Einstiegs ĂŒberzeugen konnte

Mit ihrem DebĂŒt Girl on the Train hat Paula Hawkins 2015 auf Anhieb einen Bestseller vorgelegt, der auch erfolgreich verfilmt wurde. WĂ€hrend der Film ĂŒberwiegend positiv aufgenommen wurde, wurde die Buchvorlage sehr kontrovers diskutiert. Vielen Lesern war Girl on the Train zu langatmig, und auch die Protagonistin, eine schwer alkoholabhĂ€ngige Frau, deren Wahrnehmungen man nicht immer trauen konnte, stieß auf wenig Sympathien. Mich hingegen hat Girl on the Train restlos begeistert, was nicht zuletzt an der ruhigen ErzĂ€hlweise der Autorin, der dĂŒster-tristen Grundstimmung und den grandios ausgearbeiteten Figuren lag. Umso mehr habe ich mich natĂŒrlich nun auf ihren neuen Roman Into the Water gefreut. Allerdings habe ich schon kurz nach dem Ersterscheinungstag die ersten Verrisse gelesen. Selbst viele, die von Paula Hawkins Erstlingswerk begeistert waren, sind von ihrem aktuellen Roman nun sehr enttĂ€uscht, was meiner Neugierde allerdings keinen Abbruch tat.
Inzwischen kann ich die kritischen Stimmen jedoch durchaus nachvollziehen, denn die Autorin verlangt dem Leser sehr viel Geduld, Durchhaltevermögen und Konzentration ab. Man kann es eigentlich niemandem verdenken, wenn er zwischendurch den Faden und auch das Interesse verliert. Nachdem ich mehr als hundert Seiten gelesen hatte, wollte auch ich schon aufgeben und das Buch abbrechen, denn der Einstieg in die Geschichte ist leider Ă€ußerst zĂ€h und gleichzeitig auch sehr verwirrend.
Der Roman wird aus nicht weniger als elf Perspektiven erzĂ€hlt – da fĂ€llt es mitunter schwer, den Überblick zu behalten. Manche Protagonisten schildern ihre Erlebnisse und Gedanken aus der Ich-Perspektive, anderen hingegen folgt man aus der Sicht der personalen ErzĂ€hlinstanz. Auch Passagen aus dem Manuskript der kĂŒrzlich verstorbenen Nel wurden in die Geschichte eingeflochten und gewĂ€hren einen Einblick in das Schicksal all der Frauen, die im „Drowning Pool“ den Tod fanden. Eine Hauptfigur gibt es nicht, und auch die Suche nach einem SympathietrĂ€ger erweist sich als sehr schwierig. Die vielen ZeitsprĂŒnge, die in die Vergangenheit reichenden Vorgeschichten und auch die vielen NebenschauplĂ€tze, die auf den ersten Blick nichts mit der Haupthandlung zu tun zu haben scheinen, verleiten dazu, manche Passagen nur zu ĂŒberfliegen, was man allerdings tunlichst vermeiden sollte. Stattdessen kann ich nur dazu raten, jede scheinbar noch so kleine NebensĂ€chlichkeit aufmerksam zu lesen, denn sonst wird es im weiteren Verlauf der Handlung schwierig, die ZusammenhĂ€nge und Verwicklungen noch zu ĂŒberblicken. Das erfordert außerordentlich viel Geduld, weil im ersten Viertel des Romans eben recht wenig passiert. Diese schier unĂŒberschaubare Menge an Protagonisten, die stĂ€ndigen Perspektivwechsel und auch der recht ereignislose und langatmige Einstieg in die Geschichte, fĂŒhrte leider auch bei mir dazu, dass es mich irgendwann eigentlich gar nicht mehr interessierte, ob Julias Schwester Nel nun Selbstmord begangen hat, ermordet wurde oder ihr Tod ein tragischer Unfall war. Trotzdem habe ich durchgehalten und bin auch sehr froh darĂŒber, denn nachdem diese anfĂ€ngliche Durststrecke ĂŒberstanden war, konnte mich die Geschichte dann doch packen und hat mir auch ausgesprochen gut gefallen.
Allerdings melden sich die Protagonisten weiterhin nur sehr kryptisch zu Wort, man weiß nie, wer lĂŒgt und wer der die Wahrheit sagt, und offenbar hat auch jeder in diesem kleinen Örtchen Beckford etwas zu verbergen. Wie bereits in ihrem ersten Roman, macht es Paula Hawkins dem Leser auch hier nicht gerade leicht, ihre Figuren zu mögen. Mir gefĂ€llt es allerdings, wenn Charaktere ambivalent angelegt sind und man nicht weiß, ob man sie nun lieben oder hassen soll. Obwohl mir außer Julia, die mit traumatischen Kindheitserinnerungen zu kĂ€mpfen hat, niemand so recht ans Herz wachsen wollte, waren alle Protagonisten sehr ĂŒberzeugend und glaubwĂŒrdig ausgearbeitet.
Die Autorin hat ihr Buch allen unbequemen Frauen gewidmet, und unbequem waren nicht nur die Frauen, die seit Jahrhunderten an besagter Flussbiegung in Beckford den Tod fanden und deren Geschichten hier ebenfalls sehr eindrĂŒcklich erzĂ€hlt werden, sondern eben auch die Protagonistinnen, die Paula Hawkins in ihrem Roman zu Wort kommen lĂ€sst. Auch Nel war eine unbequeme Frau, denn sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichten all dieser Frauen aufzuschreiben und sich damit nicht gerade Freunde gemacht. Der Verdacht liegt nahe, dass sie deshalb sterben musste, denn zumindest ihre Schwester Julia ist davon ĂŒberzeugt, dass Nel niemals gesprungen wĂ€re und beginnt daraufhin, sich ebenfalls mit den Geschichten dieser unbequemen Frauen zu beschĂ€ftigen. Unbequem sind auch Nickie, eine recht verschrobene Alte, die glaubt, mit Toten sprechen zu können, Erin, die Ermittlerin, eine Fremde und Außenseiterin im Dorf, die an der Wahrheit interessiert ist, und Lena, die fĂŒnfzehnjĂ€hrige Tochter von Nel, ein aufmĂŒpfiges MĂ€dchen, das sehr störrisch und voller Wut und Trauer ist. Sie hat nicht nur ihre Mutter verloren, sondern auch ihre beste Freundin, eine ebenfalls unbequeme junge Frau, die erst vor Kurzem Selbstmord begangen hat, weil sie einen Mann liebte, den sie nicht lieben durfte.
Die Schicksale all dieser unbequemen Frauen sind miteinander verwoben und waren teilweise sehr berĂŒhrend. StĂŒck fĂŒr StĂŒck gilt es die ZusammenhĂ€nge herauszufinden und die einzelnen bruchstĂŒckhaften Splitter zu einem stimmigen Ganzen zusammenzufĂŒgen. Ich will nicht behaupten, dass dieser Roman besonders spannend ist, wer einen rasanten Thriller erwartet, kann eigentlich nur enttĂ€uscht sein, aber trotzdem entwickelte die ErzĂ€hlung nach dem recht zĂ€hen Einstieg einen Sog, dem ich mich nicht mehr entziehen konnte. Das lag nicht nur an dem angenehmen Schreibstil der Autorin, sondern auch an dem raffinierten und Ă€ußerst gut durchdachten Plot, der am Ende zu einem runden Ganzen fĂŒhrt. Die Geschichte ist allerdings Ă€ußerst komplex. Der Roman lĂ€sst sich nicht einfach nebenbei zĂŒgig weglesen, sondern erfordert eben ein bisschen Durchhaltevermögen und Geduld.

Belohnt wird man aber mit einer sehr tiefgrĂŒndigen und bewegenden Geschichte, um Freundschaft, LoyalitĂ€t, verdrĂ€ngte Erinnerungen, um lange zurĂŒckliegende MissverstĂ€ndnisse, die zu spĂ€t erkannt werden, und um eine verbotene Liebe mit verheerenden Folgen. All das hat Paula Hawkins in Into the Water zu einer Ă€ußerst komplexen und ergreifenden ErzĂ€hlung verwoben, die mich trotz massiver Startschwierigkeiten dann doch noch ĂŒberzeugen konnte.

Cover des Buches Murder Park (ISBN: 9783453421769)

Bewertung zu "Murder Park" von Jonas Winner

Murder Park
ClaudiasWortweltenvor 7 Jahren
Ein rasanter und beklemmender Thriller voller ĂŒberraschender Wendungen

Nachdem ich in der Verlagsvorschau Murder Park von Jonas Winner entdeckt hatte, konnte ich den Erscheinungstermin kaum noch abwarten, denn der Klappentext tönte sehr vielversprechend. Sobald es um Serienmörder geht, ist mein Interesse ohnehin geweckt, aber vor allem das Setting ließ auf einen außergewöhnlich beklemmenden Thriller hoffen.
Jonas Winner verwendet in Murder Park das klassische Muster der locked room mysteries und siedelt die Handlung seines Romans in einem hermetisch abgeschlossenen Raum an – in diesem Fall eben auf einer von der Außenwelt abgeschotteten Insel. Zwölf Personen wurden auf diese abgelegene Insel eingeladen, schon am ersten Tag wird einer von ihnen ermordet, und im weiteren Verlauf der ErzĂ€hlung dezimiert sich die Gruppe weiter. Die Insel ist aber unbewohnt und nur mit einer FĂ€hre zu erreichen; niemand kann sie unbemerkt betreten oder verlassen, sodass der Verdacht naheliegt, dass der Mörder unter den Anwesenden zu suchen ist und das Misstrauen untereinander mit jedem weiteren Mord kontinuierlich wĂ€chst. Das ist ein altbekanntes Schema, das an Agatha Christies Und dann gabs keines mehr erinnert, aber noch immer hervorragend funktioniert, zumal Jonas Winner den Schauplatz seines Thrillers ganz besonders gruselig gestaltet hat.
Dem Autor ist es sehr gut gelungen, diese Insel sehr bildgewaltig zu beschreiben und eine Ă€ußerst beklemmende AtmosphĂ€re zu erzeugen. Besonders bedrohlich ist das Setting nĂ€mlich nicht nur, weil man dem Mörder auf der Insel hilflos ausgeliefert ist und weder fliehen noch auf Hilfe hoffen kann, sondern weil Winner den Handlungsort auch mit einer sehr schaurigen Geschichte versehen hat. Bis vor zwanzig Jahren befand sich ein Freizeitpark auf der Insel. Zodiac Island hĂ€tte eigentlich ein Ort sein sollen, an dem man sich amĂŒsiert, Spaß hat und der von Kinderlachen erfĂŒllt ist. Doch nachdem der Serienmörder Jeff Bohner dort drei alleinerziehende MĂŒtter auf bestialische Weise ermordet hatte, musste der VergnĂŒgungspark geschlossen werden.
Nun hat der Unternehmer Robert Levin den verfallenen Park gekauft und möchte sich gerade dessen schaurige Vorgeschichte zunutze machen, um auf der Insel einen neuen Erlebnispark zum Thema Serienkiller zu eröffnen. Er und sein Team haben ein Konzept erarbeitet, das sie nun im Vorfeld der Eröffnung einer auserwÀhlten Gruppe von Presseleuten und Experten prÀsentieren wollen.
Ich muss ja zugeben, dass auch mir die Faszination am Makabren nicht ganz fremd ist und es durchaus interessant sein mag, sich mit Serienmördern zu beschĂ€ftigen und Einblicke in die AbgrĂŒnde der menschlichen Seele zu bekommen, um zu erfahren, was Menschen ĂŒberhaupt zu Mördern werden lĂ€sst und zu solch grausamen Taten veranlasst, aber von realen Morden zu profitieren, indem man sie zur Jahrmarktattraktion macht, finde ich doch Ă€ußerst abstoßend. Bereits das Museum, das auf der Insel eingerichtet wurde und in dem zahlreiche Murderabilia, also GegenstĂ€nde, die von berĂŒhmten Serienmördern stammen, ausgestellt werden, wirkte auf mich etwas befremdlich. Es soll ja tatsĂ€chlich Menschen geben, die solche Murderabilia sammeln, was allerdings der Stilisierung von Serienmördern zu Helden und Pop-Ikonen gleichkommt und meiner Meinung nach doch sehr fragwĂŒrdig ist, zumal es den Angehörigen der Verbrechensopfer wie blanker Hohn erscheinen muss. Noch geschmackloser ist allerdings das Grundkonzept des Murder Park, denn der Erlebnispark soll vor allem als eine Art Partnerbörse fungieren. Mir ist vollkommen schleierhaft, wie man sich in einer solch morbiden AtmosphĂ€re und umgeben von Andenken an berĂŒhmte Serienmörder verlieben soll, halte es aber auch nicht fĂŒr ausgeschlossen, dass es genug Menschen gibt, die an solchen makabren Unterhaltungsspektakeln Gefallen finden wĂŒrden. Völlig abwegig erschien mir das GeschĂ€ftsmodell jedenfalls nicht.
Ich war jedoch sehr beruhigt, dass meine Bedenken auch im Buch thematisiert wurden und innerhalb der Gruppe schon die ersten kritischen Stimmen laut werden, als das Konzept prÀsentiert wird. Allerdings ahnt zu diesem Zeitpunkt noch niemand, dass sich diese dreitÀgige Pressereise zu einem wahren Albtraum entwickeln wird.
Die Geschehnisse auf der Insel werden aus der Sicht des Reporters Paul Greenblatt erzĂ€hlt, der von Mördern und Mordgeschichten geradezu besessen ist und auch eine ganz besondere und persönliche Verbindung zu Zodiac Island hat. Dieser gegenwĂ€rtige Handlungsstrang wird immer wieder durch Interviews unterbrochen, die der Psychiater Sheldon Lazarus im Vorfeld der Vorbesichtigung gefĂŒhrt hat, um die richtigen Kandidaten fĂŒr dieses Wochenende zu finden. Eigentlich hat es mir ausgesprochen gut gefallen, die Teilnehmer dieser Pressereise in Form dieser GesprĂ€chsaufzeichnungen kennenzulernen. Allerdings halte ich es fĂŒr ziemlich unrealistisch, dass ein Unternehmer tatsĂ€chlich einen Psychiater beauftragt, um die Bewerber fĂŒr eine solche PresseprĂ€sentation zu durchleuchten und von jedem Einzelnen ein psychiatrisches Profil zu zeichnen. Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass jemand bereitwillig sein Innerstes nach außen kehrt, nur weil er an einer FirmenprĂ€sentation teilnehmen möchte. LĂ€sst man die GlaubwĂŒrdigkeit außer Acht, waren diese Interviews allerdings eine sehr gute Möglichkeit, Einblicke in Persönlichkeit der Teilnehmer zu erhalten, denn diese wurden keinesfalls zufĂ€llig ausgewĂ€hlt, sondern stehen alle in Verbindung mit Zodiac Island und den Morden, die sich dort vor zwanzig Jahren zugetragen hatten.
Paul Greenblatt ist der Erste, den man auf diese Weise kennenlernt. Er ist eben auch der Protagonist, dem man in der Haupthandlung folgt und aus dessen Perspektive erzĂ€hlt wird. Obwohl mich das traumatische Erlebnis, das er in seiner Kindheit durchleiden musste, sehr berĂŒhrt hat, fiel es mir manchmal schwer, mich in ihn hineinzuversetzen und seine Handlungen und Gedanken nachzuvollziehen. Er ist mit elf anderen Personen auf dieser Insel, einer nach dem anderen wird auf grausame Weise ermordet und er muss jeden Moment damit rechnen, der NĂ€chste zu sein, aber auf seine Libido scheint sich das erstaunlicherweise nicht negativ auszuwirken. Auch sonst kann ich nicht gerade behaupten, dass ich ihn besonders mochte, aber vor allem hatte ich oft den Eindruck, dass man seinen Wahrnehmungen nicht ganz trauen kann.
Auch alle anderen Charaktere waren mir nicht gerade sympathisch und verhalten sich auch Ă€ußerst merkwĂŒrdig. Selbst die Interviewausschnitte vermochten es nicht, dass ich zu einer der Romanfiguren eine Verbindung aufbauen konnte. Das soll jedoch keineswegs ein Kritikpunkt sein, denn zum einen muss ich die Protagonisten eines Buches gar nicht mögen, und zum anderen fĂŒhrt dies eben auch dazu, dass ich jeden von ihnen im Verdacht hatte, der Mörder zu sein – selbst Paul Greenblatt. Jonas Winner versteht es Ă€ußerst geschickt, den Leser immer wieder auf die falsche FĂ€hrte zu locken und einen sehr wendungsreichen Plot zu konstruieren. Sobald ich sicher war, den Mörder nun enttarnt zu haben, wurde diese Person entweder selbst ermordet oder der Verdacht wurde auf einen anderen aus der Gruppe gelenkt. Selbst als es kaum noch Überlebende gibt und der Kreis der VerdĂ€chtigen immer kleiner wird, hatte ich keine Ahnung, wer der Mörder sein könnte.
Was mich ein wenig gestört hat, war das Tempo des Romans, denn mir ging es hÀufig einfach ein bisschen zu schnell. Die Romanfiguren sterben wie die Fliegen, ein Mord jagt den nÀchsten, wird auf wenigen Zeilen abgehandelt, sodass es kaum noch schockierend war, wenn wieder jemand zu Tode kam.
Das Ende war dann sehr ĂŒberraschend, allerdings auch ein bisschen enttĂ€uschend.
Trotzdem hat mir dieser Thriller ausgesprochen gut gefallen, denn dem Autor ist es gelungen, das Spannungslevel kontinuierlich zu steigern und bis zum Schluss zu halten. Sein flĂŒssiger Schreibstil und eine angenehme KapitellĂ€nge lassen den Lesefluss nie ins Stocken geraten. Besonders beeindruckend waren aber vor allem das Setting und die außerordentlich bedrohliche AtmosphĂ€re, die mich ĂŒber kleine UnglaubwĂŒrdigkeiten gerne hinwegsehen ließen.

Ein rasanter und beklemmender Thriller voller ĂŒberraschender Wendungen, der mich sehr gut und spannend unterhalten hat.

Cover des Buches Die Überfahrt (ISBN: 9783596295999)

Bewertung zu "Die Überfahrt" von Mats Strandberg

Die Überfahrt
ClaudiasWortweltenvor 7 Jahren
FĂŒr Fans von blutigem und brutalem Horror sicher ein Highlight - fĂŒr mich eine EnttĂ€uschung

Ich war sehr gespannt auf Die Überfahrt von Mats Strandberg und fieberte dem Ersterscheinungstag geradezu entgegen, denn ich liebe Thriller, die mich mit meinen eigenen Ängsten konfrontieren. Das klingt fĂŒr jeden, der gerne Schiffsreisen unternimmt, sicher furchtbar albern, aber bereits der Schauplatz dieses Thrillers kommt fĂŒr mich einem Albtraum gleich. FĂŒr mich gibt es kaum etwas Beklemmenderes als Schiffe, und schon allein die Vorstellung, an einem von Wasser umgebenen Ort sein zu mĂŒssen, den ich nicht jederzeit verlassen kann, treibt mir den puren Angstschweiß auf die Stirn. Ich war mir also ziemlich sicher, dass Die Überfahrt ein ĂŒberaus spannendes und beklemmendes Leseerlebnis wird, zumal der Autor auf dem Cover als „der schwedische Stephen King“ bezeichnet und auch mit Justin Cronin verglichen wird. Dass man diesen Vergleichen nicht trauen kann, ist mir durchaus bewusst, aber trotzdem falle ich immer wieder auf solche werbewirksamen Aussagen herein. Man tut einem Autor aber sicher keinen Gefallen, wenn man die Messlatte derart hoch anlegt und eine Erwartungshaltung schĂŒrt, der der Roman dann nicht gerecht werden kann. Ich habe jedenfalls nicht einmal ansatzweise Gemeinsamkeiten mit King oder Cronin erkennen können, was jedoch keinesfalls der einzige Grund war, weshalb mich Die Überfahrt letztendlich doch sehr enttĂ€uscht hat.
Dabei beginnt die ErzĂ€hlung durchaus vielversprechend, wenn auch nicht gerade besonders spannend, denn auf den ersten hundert Seiten passiert eigentlich nichts. Allerdings gelingt es Mats Strandberg ausgezeichnet, die ĂŒberaus klaustrophobische AtmosphĂ€re und die Stimmung auf der Baltic Charisma perfekt einzufangen und dieses gewaltige und etwas heruntergekommene Schiff vor den Augen des Lesers Gestalt annehmen zu lassen.
Außerdem lernt man im ersten Teil dieses Thrillers die Passagiere und Besatzungsmitglieder nĂ€her kennen, aus deren Perspektive die Geschehnisse dann erzĂ€hlt werden. Mit viel gutem Willen kann man hier eine kleine Gemeinsamkeit mit Stephen King erkennen, der ebenfalls sehr viel Zeit darauf verwendet, seine Charaktere einzufĂŒhren und eine Vorliebe fĂŒr gebrochene Figuren und soziale Außenseiter hat. Allerdings schafft es King, seinen Figuren Kontur zu verleihen und lebendige und unverwechselbare Charaktere zu erschaffen, wĂ€hrend ich manche Protagonisten in Strandbergs Thriller kaum voneinander unterscheiden konnte. Am Anfang fiel es mir besonders schwer, den Überblick ĂŒber das Personal des Romans zu behalten, und manchen Figuren fehlte eben auch leider die nötige Tiefe, sodass sie etwas schablonenhaft wirkten. Einen Hauptprotagonisten auszumachen, ist unmöglich, denn die Geschichte wird aus vielen verschiedenen Perspektiven erzĂ€hlt, von denen keine besonders heraussticht. Eines haben allerdings alle Charaktere gemeinsam – sie sind allesamt vom Schicksal gebeutelte und gebrochene Figuren, seien es nun die Besatzungsmitglieder oder die Passagiere.
Im GedĂ€chtnis blieb mir vor allem ein abgehalfteter ehemaliger Schlagerstar, der in der Karaokebar des Schiffes arbeitet, das Ende seiner Karriere noch immer nicht verkraftet hat, Ă€ußerst verbittert ist und seinen Frust mit Sex, Alkohol und Kokain betĂ€ubt. Im Grunde verachtet er die Passagiere, die er nun unterhalten muss, um ĂŒberhaupt noch seinen Lebensunterhalt verdienen zu können, und verhöhnt die Frauen, die ihn noch immer hingebungsvoll anschmachten und zumindest seine sexuellen BedĂŒrfnisse befriedigen. Er ist ein Ă€ußerst verabscheuungswĂŒrdiger Charakter und keineswegs ein Protagonist, mit dem man mitfiebern könnte. Albin, ein kleiner Junge, der mit seinen Adoptiveltern an Bord ist, ist mir allerdings sehr ans Herz gewachsen. Seine Adoptivmutter sitzt im Rollstuhl, der Vater ist ein depressiver Alkoholiker, der zu heftigen WutausbrĂŒchen neigt und im nĂ€chsten Moment wieder in weinerliche Depressionen verfĂ€llt. In der Familie wird jedoch nicht ĂŒber diese Probleme gesprochen, und so freut sich Albin, dass er auf dieser Schiffsreise wenigstens seine Cousine Lo wiedersehen darf, die er lange nicht mehr gesehen hat. Doch Lo hat sich verĂ€ndert, steckt mitten in der PubertĂ€t, bunkert jetzt schon heimlich kleine WodkaflĂ€schchen und ist Albin fremd geworden.
Auch wenn mir außer Albin und einem homosexuellen jungen Mann, der die Fahrt auf der Baltic Charisma nutzt, um seinem LebensgefĂ€hrten einen Heiratsantrag zu machen, niemand so recht sympathisch war, hat mir der Einstieg in die Geschichte sehr gut gefallen, obwohl lange nichts SpektakulĂ€res passiert. Langweilig war es trotzdem nicht, die Personen kennenzulernen, die dazu verdammt sind, die kommenden vierundzwanzig Stunden miteinander auf dieser FĂ€hre zu verbringen, die fĂŒr alle bald zu einer tödlichen Falle werden soll.
Mit steigendem Alkoholpegel sinken die Schamgrenzen und Hemmschwellen immer mehr, aber aus diesem Grund waren ja die meisten Passagiere ĂŒberhaupt an Bord gekommen –  um sich sinnlos zu betrinken und alle Hemmungen fallen zu lassen. Die Partystimmung hat ihren Höhepunkt fast erreicht, als das Grauen dann hereinbricht.
Schon auf den ersten Seiten spĂŒrt man, dass mit der stark geschminkten, dunkelhaarigen Frau mit dem zerfurchten Gesicht und ihrem kleinen, etwa fĂŒnf Jahre alten Sohn etwas nicht stimmt. Allerdings erfĂ€hrt man nichts NĂ€heres ĂŒber die beiden, sodass der Horror, der nun ausbricht, doch etwas unvermittelt kommt. Auch wenn es zunĂ€chst noch Ă€ußerst schockierend und auch spannend war, dieses Horrorszenario aus verschiedenen Perspektiven zu beobachten, wurde mir das Blut, das nun eimerweise aus den Seiten triefte, schnell zu viel. Ich kann wirklich viel aushalten, habe auch keinen empfindlichen Magen, aber effekthascherisches Gemetzel allein ist eben furchtbar nichtssagend und auf Dauer auch sehr ermĂŒdend. Als der erste Schock ĂŒberwunden war und sich nur noch ein unappetitliches Szenario an das nĂ€chste reihte, habe ich mich nĂ€mlich leider auch schrecklich gelangweilt, zumal schon absehbar war, wie die Geschichte endet. Ein paar gute AnsĂ€tze waren durchaus erkennbar, wurden dann allerdings in wenigen SĂ€tzen abgehandelt und verliefen leider wieder im Sande. Jede Chance, der Geschichte noch ein bisschen Tiefgang zu verleihen, wurde ungenutzt fallengelassen, sodass außer billigem Splatter eigentlich nichts mehr ĂŒbrigblieb.
Und gerade das ist es, was Strandbergs Roman von Werken von King und Cronin unterscheidet, denn diese beiden Autoren schaffen es, Horror auf hohem Niveau zu erzĂ€hlen, nicht jedes blutige Detail in allen Einzelheiten zu beschreiben, sondern das wahre Grauen im Kopf des Lesers entstehen zu lassen und den ewigen Kampf von Gut gegen Böse in all seinen Facetten zu zeigen. Weniger ist eben tatsĂ€chlich hĂ€ufig mehr, und etwas weniger Blut und GedĂ€rme und dafĂŒr etwas mehr Tiefgang hĂ€tten diesem Roman sehr gut getan. Wer blutigen und brutalen Splatter mag, wird an Die Überfahrt spĂ€testens nach hundert Seiten seine Freude haben, aber mein Geschmack ist das leider gar nicht, weshalb mich dieser Horrorthriller leider enttĂ€uscht hat.

Cover des Buches Schuld bist du (ISBN: 9783426518519)

Bewertung zu "Schuld bist du" von Jutta Maria Herrmann

Schuld bist du
ClaudiasWortweltenvor 7 Jahren
Ein außergewöhnlich konstruierter und mitreißender Psychothriller um Schuld und VerdrĂ€ngung

Vor ein paar Monaten habe ich bei einem Gewinnspiel Jutta Maria Herrmanns DebĂŒt Hotline gewonnen und war von diesem Psychothriller so angetan, dass ich unbedingt mehr von dieser Autorin lesen wollte. Erst kĂŒrzlich erschien bereits ihr dritter Roman Amnesia, aber obwohl es sich bei ihren BĂŒchern um EinzelbĂ€nde handelt, die in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können, wollte ich nun trotzdem erst Schuld bist du lesen.
Selbst wenn man es nicht will, neigt man ja dazu, die Werke eines Autors miteinander zu vergleichen. Schon nach wenigen Kapiteln habe ich jedoch gemerkt, dass Schuld bist du vollkommen anders ist als Jutta Maria Herrmanns DebĂŒt, in dem sich die Autorin zwar auch im weitesten Sinne mit dem Thema Schuld beschĂ€ftigt, das aber sehr viel ruhiger erzĂ€hlt ist. Jakob Auerbachs verzweifelte Suche nach seiner Frau und seiner kleinen Tochter ist jedenfalls ungleich rasanter und actionreicher als die eher gemĂ€chliche, aber etwas tiefgrĂŒndigere ErzĂ€hlung in Herrmanns DebĂŒt.
In einem zweiten ErzĂ€hlstrang begleitet der Leser eine Frau, die im Krankenhaus am Bett eines Mannes sitzt, der an Maschinen angeschlossen ist und offenbar nur noch geringe Überlebenschancen hat. In welcher Verbindung die unbekannte Ich-ErzĂ€hlerin zu dem Mann steht, der neben ihr mit dem Tod ringt, und was ihm zugestoßen ist, erfĂ€hrt man jedoch zunĂ€chst nicht. Sie sitzt an seinem Sterbebett und erzĂ€hlt ihm die Geschichte einer Frau namens Grit, die ihr offenbar sehr nahesteht. Obwohl dieser Handlungsstrang in der Ich-Perspektive erzĂ€hlt wird, der Leser die Gedanken und GefĂŒhle dieser Frau also hautnah miterlebt und auch erfĂ€hrt, welches traumatische Ereignis in ihrer Jugend noch immer ihr Leben ĂŒberschattet, bleibt sie Ă€ußerst rĂ€tselhaft und mysteriös. Auch die Geschichte, die sie erzĂ€hlt ist Ă€ußerst erschĂŒtternd, allerdings ist auf den ersten Blick nicht erkennbar, inwiefern dieser zweite ErzĂ€hlstrang mit Jakob Auerbach und dessen Familie zusammenhĂ€ngt.
Jakobs Suche nach seinem Kind und seiner Frau entwickelt sich im weiteren Handlungsverlauf zu einem absoluten Albtraum, dem ich mit angehaltenem Atem folgte. Was Jakob wĂ€hrend seiner Suche widerfĂ€hrt und welche unheimlichen Begegnungen und Entdeckungen er macht, gleicht einer einzigen Horror-Odyssee. WĂ€hrend ich zu Beginn noch alles recht nachvollziehbar und realistisch fand, war ich irgendwann vollkommen verwirrt, denn das, was Jakob erlebt, wird immer surrealer, unglaubwĂŒrdiger und absurder. Ich reagiere ja immer ein wenig allergisch auf abwegige ZufĂ€lle und vollkommen unlogische Wendungen. Da sich solche an den Haaren herbeigezogenen ZufĂ€lle hĂ€uften, die Geschichte immer unlogischer und abstruser wurde und die ZusammenhĂ€nge immer weniger Sinn ergaben, war ich manchmal fast schon ein wenig ungehalten. Jakobs Suche nach seiner Familie war aber trotzdem so spannend und mitreißend, dass ich das Buch nicht mehr aus den HĂ€nden legen konnte und einfach hoffte, dass es fĂŒr dieses surreale Szenario eine halbwegs schlĂŒssige ErklĂ€rung gibt. Allerdings habe ich Jakobs Wahrnehmungen nicht mehr getraut, nicht zuletzt, weil auch er selbst immer wieder befĂŒrchtet, den Verstand zu verlieren. Doch gerade diese unzuverlĂ€ssige ErzĂ€hlweise trĂ€gt letztendlich enorm zur Spannung dieses Psychothrillers bei.
Ich war jedoch sehr gespannt, wie die Autorin es schaffen will, den Plot noch irgendwie logisch und stimmig aufzulösen, vor allem, weil ich auch kurz vor dem Ende noch immer nicht erkennen konnte, welche Verbindung nun zwischen Jakob und der Frau, die im Krankenhaus am Sterbebett dieses Mannes sitzt, besteht. Jutta Maria Herrmann hat mich allerdings nicht enttĂ€uscht, denn sie fĂŒhrt nicht nur beide ErzĂ€hlstrĂ€nge gekonnt zusammen, sondern ĂŒberraschte mich auch mit einem schlĂŒssigen und realistischen Ende. Auch wenn die Autorin nicht fĂŒr alle Ungereimtheiten eine ErklĂ€rung liefert, ergibt im Nachhinein betrachtet nun alles einen Sinn.
In Hotline hatte mich ein bisschen gestört, dass die Geschichte etwas vorhersehbar war, was man von Schuld bist du jedoch nicht behaupten kann. Sprachlich und erzĂ€hltechnisch hat mir Herrmanns DebĂŒt allerdings ein wenig besser gefallen, wĂ€hrend mich Schuld bist du nun vor allem aufgrund des deutlich rasanteren ErzĂ€hlstils und des raffinierten und ausgefallenen Plots ĂŒberzeugen konnte.
Das Thema Schuld und VerdrĂ€ngung zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze ErzĂ€hlung und gibt dem Leser nach der LektĂŒre auch Anlass, ĂŒber den eigenen Umgang mit Schuld nachzudenken.
Ein sehr außergewöhnlich konstruierter Psychothriller, der mich trotz zeitweiliger Irritationen vollkommen begeistern konnte und von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt hat.

Cover des Buches Babydoll (ISBN: 9783442205202)

Bewertung zu "Babydoll" von Hollie Overton

Babydoll
ClaudiasWortweltenvor 7 Jahren
Selten hat mich ein Roman so tief berĂŒhrt und gleichzeitig so hochspannend unterhalten

Ich muss ja zugeben, dass der Titel Babydoll mich ein wenig abgeschreckt hat, aber als ich den Klappentext gelesen hatte, musste ich dieses Buch einfach lesen. Als es dann bei mir angekommen ist, habe ich es fast in einem Rutsch durchgelesen, denn es war so mitreißend, dass ich es nicht mehr aus der Hand legen konnte.
Die ErzĂ€hlung setzt da ein, wo andere EntfĂŒhrungsgeschichten enden, nĂ€mlich an dem Tag, an dem es Lily gelingt, ihrem Peiniger zu entkommen, weil dieser vergessen hatte, die TĂŒr der HĂŒtte zu verriegeln, in der sie die letzten Jahre eingesperrt war. Schon auf den ersten Seiten hielt ich den Atem an, denn Lilys Flucht ist bereits sehr spannend und auch erschĂŒtternd, zumal man erfĂ€hrt, dass sie wĂ€hrend ihrer achtjĂ€hrigen Gefangenschaft ein Kind von ihrem EntfĂŒhrer bekommen hat und auf jeder Seite ihre Angst spĂŒren kann.
Im nĂ€chsten Kapitel wechselt die Perspektive dann zu ihrem EntfĂŒhrer Rick Hanson, der inzwischen zwar bemerkt hat, dass er vergessen hatte, die TĂŒr abzuschließen, aufgrund seiner NachlĂ€ssigkeit auch verĂ€rgert und ein wenig beunruhigt ist, aber davon ausgeht, dass Lily es ohnehin niemals wagen wĂŒrde, zu fliehen. Er befindet sich gerade auf dem Weg nach Hause zu seiner Frau Missy, einer sehr einfĂ€ltigen Person, die nichts vom Doppelleben ihres Mannes weiß. Rick verachtet seine Frau, aber er braucht sie eben, um die Fassade des ehrbaren Lehrers aufrechtzuerhalten. In die Gedankenwelt dieses Mannes einzutauchen, ist schon zu Beginn dieses Psychothrillers ĂŒberaus verstörend, aber im weiteren Handlungsverlauf haben mir die Passagen, die aus Ricks Perspektive geschildert werden, geradezu die Sprache verschlagen.
Die Geschichte wird aus vier verschiedenen Perspektiven erzĂ€hlt. Abwechselnd kommen Lily, ihre Zwillingsschwester Abby, ihre Mutter Eve und ihr EntfĂŒhrer Rick Hanson zu Wort. Obwohl der Fokus der ErzĂ€hlung auf der Zeit nach Lilys RĂŒckkehr und den Folgen der EntfĂŒhrung liegt, wirft der Leser mit jedem Protagonisten auch einen Blick zurĂŒck in die Vergangenheit und erfĂ€hrt, was in den vergangenen acht Jahren passiert ist. Hollie Overton hat alle Charaktere ihres Romans sehr glaubwĂŒrdig ausgearbeitet und psychologisch prĂ€zise gezeichnet.
Vor allem Lilys Schicksal ging mir sehr nahe, denn die unsĂ€glichen Qualen und Misshandlungen, die sie wĂ€hrend ihrer achtjĂ€hrigen Gefangenschaft erleiden musste, waren sehr schockierend. Ihr Körper ist das offizielle Beweismittel fĂŒr Ricks perverse Neigungen; doch noch schlimmer als die Narben und BrĂŒche, sind die psychischen SchĂ€den, die er ihr zugefĂŒgt hat, indem er sie jahrelang ihrer Freiheit und ihrer Jugend beraubte und alles versucht hat, sie zu brechen. Ich mochte Lily von der ersten Seite an und war sehr beeindruckt von ihrer StĂ€rke, ihrem Mut und der Entschlossenheit, mit der sie fĂŒr ein neues Leben fĂŒr sich und ihre kleine Tochter kĂ€mpft.
Lilys enge und liebevolle Bindung zu ihrem Kind, das wĂ€hrend einer der unzĂ€hligen Vergewaltigungen gezeugt wurde, hat mich hĂ€ufig zu TrĂ€nen gerĂŒhrt. Die kleine Sky liebt ihren Vater, denn sie hat außer ihm nie einen anderen Menschen kennengelernt und weiß nicht, dass er ein Ungeheuer ist, das ihre Mutter geschlagen und gequĂ€lt hat, da Lily immer dafĂŒr sorgte, dass ihr Kind das nicht mitbekommt. Sky kannte bislang nur die Isolation, hat große MĂŒhe, sich nun in ihrer neuen Umgebung zurechtzufinden, die ReizĂŒberflutung und die neuen EindrĂŒcke zu verarbeiten und möchte wieder zurĂŒck in die vertraute HĂŒtte im Wald und zu ihrem Vater. Das klingt zunĂ€chst etwas irritierend, ist aber aus der Sicht dieses Kindes auf geradezu erschĂŒtternde Weise nachvollziehbar.
Lily stellt sehr schnell fest, dass es fĂŒr sie unmöglich ist, wieder zur NormalitĂ€t zurĂŒckzukehren. Sie denkt viel darĂŒber nach, was sie in den letzten Jahren versĂ€umt hat, war gerade frisch verliebt, als sie im Alter von sechzehn Jahren aus ihrem bisherigen Leben gerissen wurde und wĂŒrde nun gerne alles nachholen. Allerdings muss sie erkennen, dass die vergangenen acht Jahre nicht nur bei ihr, sondern auch bei ihrer Familie sehr tiefe Wunden hinterlassen haben und sie nie wieder dort anknĂŒpfen kann, wo ihre unbekĂŒmmerte Jugend einst endete.
Ihr Vater ist kurz nach ihrer EntfĂŒhrung an einem Herzinfarkt verstorben, weil er den Verlust seines Kindes nicht verkraften konnte. Ihre Mutter Eve ist eine zerbrechliche und schwache Frau geworden, die sich in unverbindliche AffĂ€ren stĂŒrzte, um ihren Sorgen und der Einsamkeit zu entfliehen. Lilys Zwillingschwester Abby hingegen hat sich mit Drogen und Alkohol betĂ€ubt, wollte sich umbringen und selbst dafĂŒr bestrafen, dass nicht sie, sondern ihre Schwester entfĂŒhrt wurde. Man merkt deutlich, dass die Autorin selbst eine Zwillingsschwester hat, denn die besondere Verbindung, die zwischen Zwillingen besteht, wird sehr eindrucksvoll und nachvollziehbar geschildert. Als Abby erfĂ€hrt, dass Lily die vergangenen Jahre ganz in ihrer NĂ€he gefangen gehalten wurde, sie den EntfĂŒhrer sogar kannte und ihm tagtĂ€glich begegnete, gerĂ€t sich vollkommen außer Kontrolle. Ich mochte Abby nicht besonders, denn sie war mir hĂ€ufig ein wenig zu impulsiv, aber dennoch hat mich ihre enge Bindung an ihre Zwillingsschwester sehr berĂŒhrt.
Besonders verstörend und schockierend waren allerdings die Passagen, die aus der Perspektive von Rick erzĂ€hlt wurden, denn Hollie Overton hat einen so abgrundtief bösen Charakter geschaffen, wie man ihn selbst im Thrillergenre nur selten findet. Die Autorin hat auch ihren Antagonisten ĂŒberaus prĂ€zise ausgearbeitet und lĂ€sst den Leser in die dunkelsten AbgrĂŒnde menschlicher Grausamkeit blicken. Nach Lilys Flucht wird Rick zwar sehr schnell gefasst, aber er schmiedet im GefĂ€ngnis einen teuflischen Plan. Er will Lily nicht ungeschoren davonkommen lassen, sondern sie fĂŒr ihren Ungehorsam bestrafen. Seine GedankengĂ€nge sind Ă€ußerst abstoßend, denn dieser Mann besitzt keinerlei Unrechtsbewusstsein oder Skrupel. Irritierend ist vor allem, dass er behauptet, Lily zu lieben und sogar davon ausgeht, dass sie ihm Dankbarkeit schuldet. Er war sich sicher, ihren Willen gebrochen zu haben und kann es nicht fassen, dass sie es tatsĂ€chlich gewagt hat, sich ihm zu widersetzen. Obwohl er im GefĂ€ngnis sitzt, ist zu befĂŒrchten, dass es ihm gelingt, seine PlĂ€ne in die Tat umzusetzen, denn das besonders GefĂ€hrliche an diesem Mann ist, dass er ĂŒberaus intelligent und charismatisch ist und Menschen sehr geschickt manipulieren kann.
Die Spannung dieses Psychothrillers resultiert vor allem aus der stĂ€ndigen Gefahr, die noch immer von diesem perversen Psychopathen ausgeht. Doch nur der Leser weiß, was Rick vorhat, wĂ€hrend Lily und ihre Familie verzweifelt versuchen, wieder etwas NormalitĂ€t in ihr Leben zu bringen, aber recht arglos sind und sich zumindest sicher fĂŒhlen.
Mir hat Babydoll ausgesprochen gut gefallen, auch wenn das Ende ein bisschen zu gewollt und nicht gerade originell war. Selten hat mich ein Roman so tief berĂŒhrt und gleichzeitig so hochspannend unterhalten. Durch die angenehme KapitellĂ€nge und den flĂŒssigen Schreibstil der Autorin flog ich geradezu durch die Seiten und fieberte das ganze Buch hinweg mit Lily und ihrer Familie mit. Ein grandioses DebĂŒt einer Autorin, von der man hoffentlich bald noch mehr lesen darf!

Cover des Buches Mordkapelle (ISBN: 9783453419964)

Bewertung zu "Mordkapelle" von Carla Berling

Mordkapelle
ClaudiasWortweltenvor 7 Jahren
Ein solider, unterhaltsamer Krimi zum MitrÀtseln

Ich hatte mal wieder richtig Lust auf einen spannenden Krimi zum MitrĂ€tseln und bin bei meiner Suche nach neuem Lesestoff auf Mordkapelle von Carla Berling gestoßen. Bei deutschen Kriminalromanen bin ich inzwischen immer ein wenig skeptisch, denn entweder stecken sie so voller Lokalkolorit, dass man auch gleich einen ReisefĂŒhrer lesen könnte, oder sie sind so gewollt komisch, dass sie eher einer albernen Slapstickkomödie gleichen. Beides geht leider meistens auf Kosten eines intelligenten Plots und vor allem der Spannung. Der Klappentext von Carla Berlings Kriminalroman klang allerdings Ă€ußerst vielversprechend, und so war ich sehr gespannt auf Mordkapelle, den vierten Band der Reihe um die Lokalreporterin Ira Wittekind. Die ersten drei BĂ€nde dieser Krimireihe wurden allerdings im Selbstverlag veröffentlicht, wĂ€hrend Mordkapelle nun der erste Band ist, der kĂŒrzlich bei Heyne erschien, aber man muss die vorhergehenden BĂ€nde nicht zwingend kennen, um der Handlung folgen zu können. Ich hatte jedenfalls nie den Eindruck, dass mir entscheidende Vorkenntnisse fehlen, um Ira Wittekind bei ihrem vierten Fall zu begleiten, denn man lernt die Protagonistin und das Umfeld, in dem sie lebt und arbeitet, sehr gut kennen, und der Kriminalfall ist in sich abgeschlossen. Erfreulicherweise hielt sich das Lokalkolorit in Grenzen, sodass man Bad Oeynhausen nicht kennen muss, um seine Freude an diesem Krimi zu haben.
Man merkt, dass Carla Berling selbst jahrelang als Lokalreporterin tĂ€tig war, und es hat mir sehr gut gefallen, dass sie in ihrem Kriminalroman keinen klassischen Ermittler, sondern eine Journalistin ins Rennen schickt. Besonders sympathisch war mir, dass Ira Wittekind nicht mehr ganz jung, sondern bereits Mitte fĂŒnfzig ist, eigentlich ein recht intaktes Privatleben hat und weder unter Depressionen noch unter Psychosen leidet. Ein bisschen neurotisch ist sie freilich, aber weit entfernt von den vielen gebrochenen Ermittlerfiguren, die ansonsten in der Krimilandschaft zu finden sind und mir allmĂ€hlich etwas auf die Nerven gehen. Die Protagonistin ist sehr glaubwĂŒrdig angelegt und hat durchaus die nötigen Ecken und Kanten. Sympathisch war sie mir trotzdem nicht, denn fĂŒr mein Empfinden war sie einfach eine Spur zu kĂŒhl und tough, aber ich muss Charaktere auch nicht zwingend mögen, wenn mich ein Buch ansonsten begeistert und die Geschichte spannend erzĂ€hlt und raffiniert gestrickt ist.
Das Privatleben der Ermittler interessiert mich allerdings meistens nicht besonders, weshalb ich die Passagen, in denen Ira Wittekinds Beziehung zu ihrem Freund Andy und ihr familiĂ€res Umfeld im Vordergrund stehen, etwas langweilig fand. Besonders genervt war ich von zwei alten Tanten, die gemeinsam mit Ira und ihrem LebensgefĂ€hrten auf dem Hof von Andys Familie leben und sich – streng nach dem Motto „Nich‘ lang schnacken, Kopp in’n Nacken“ – bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit einen hinter die Binde gießen. Selbst wenn das am Anfang noch recht komisch war, wurde es mir irgendwann zu viel und einfach eine Spur zu albern. Die Darstellung der beiden alten Damen war leider sehr ĂŒberzeichnet, sodass sie auf mich eher wie Karikaturen wirkten. Ich bin zwar nicht vollkommen humorbefreit, aber solche gewollt komischen Momente stören mich in Kriminalromanen doch sehr und treffen auch nicht unbedingt mein Komikzentrum. Iras LebensgefĂ€hrte Andy, der ein sehr liebenswĂŒrdiger, verlĂ€sslicher und ĂŒberaus geduldiger Partner an ihrer Seite ist, und auch ihre beste Freundin Coco mochte ich hingegen sehr gerne.
Ira Wittekinds Privatleben und ihre Bedenken, mit ihrem Freund eine Ehe einzugehen, haben mich ein bisschen gestört und auch sehr gelangweilt, aber der spektakulĂ€re Mordfall, in dem sie ermittelt, nimmt in der ErzĂ€hlung glĂŒcklicherweise einen breiteren Raum ein und konnte mich auch weitaus mehr begeistern. Bereits die Tötungsart und der Tatort sind schon ĂŒberaus bizarr, aber besonders rĂ€tselhaft ist das Motiv, denn Ludwig Hahnwald, das Mordopfer, war Ă€ußerst beliebt, hatte fĂŒr jeden ein freundliches Wort ĂŒbrig, war großzĂŒgig, hilfsbereit, ein kompetenter Apotheker und angesehener GeschĂ€ftsmann, der von jedem geachtet und von den Frauen noch immer umschwĂ€rmt wurde. Wer sollte also einen Grund haben, den betagten Mann zu töten? Bei ihren Recherchen findet Ira Wittekind jedoch sehr schnell heraus, dass das Mordopfer ein hartherziger Patriarch war. Obwohl das Bild des vermeintlich perfekten und allseits beliebten Apothekers allmĂ€hlich bröckelt, scheint auf den ersten Blick niemand ein Motiv gehabt zu haben, ihn zu ermorden. WĂ€hrend Ira immer tiefer in die AbgrĂŒnde einer furchtbaren Familientragödie vordringt, muss sie allerdings feststellen, dass ihr ein Newsblogger mit reißerischen Schlagzeilen stets einen Schritt voraus ist. Außerdem wird sie von einem anonymen Anrufer tyrannisiert und fĂŒhlt sich zunehmend bedroht. Offenbar möchte jemand unbedingt verhindern, dass sie der Wahrheit auf die Spur kommt.
Ich fand es nicht gerade glaubwĂŒrdig, wie mĂŒhelos Ira Wittekind bei ihren Recherchen an die nötigen Informationen kommt. Es war jedenfalls erstaunlich, wie bereitwillig die meisten Befragten aus dem privaten Umfeld des Opfers die Lokalreporterin mit recht delikaten Familieninterna versorgen, die man am nĂ€chsten Tag nicht unbedingt in der Zeitung lesen möchte und – abgesehen von der Polizei – auch keinem Außenstehenden anvertrauen wĂŒrde. Eine besonders ausgeklĂŒgelte Taktik, mit der es ihr gelingt, das Vertrauen der Befragten zu gewinnen, konnte ich jedenfalls nicht erkennen. Auch die Ermittlungsarbeit der Polizei war mir ein vollkommenes RĂ€tsel. Ira Wittekind ist bei ihren Recherchen jedenfalls weitaus erfolgreicher, stĂ¶ĂŸt dabei auf ein erschĂŒtterndes Familiengeheimnis und zahlreiche VerdĂ€chtige.
Es war sehr interessant, an Iras Seite immer tiefer in die dĂŒstere Vergangenheit des Mordopfers einzutauchen, die einzelnen Puzzleteile zusammenzusetzen und fleißig mitzurĂ€tseln, wer den Mord begangen haben könnte. Auch wenn ich den Kriminalfall und seine HintergrĂŒnde sehr spannend fand und die AbgrĂŒnde, die sich hinter der Fassade des vermeintlich ehrenhaften und allseits beliebten Mordopfers auftaten, Ă€ußerst erschreckend waren, war mir die ErzĂ€hlweise der Autorin hĂ€ufig ein wenig zu gemĂ€chlich. Carla Berlings Sprache ist einfach, lĂ€sst sich angenehm und flĂŒssig lesen, aber nervenzerreißende Hochspannung oder das GefĂŒhl, das Buch nicht mehr aus der Hand legen zu wollen, konnte bei mir leider nicht aufkommen. Der Kriminalfall war allerdings gut durchdacht, durchaus glaubwĂŒrdig und logisch konstruiert. Das Ende war ebenfalls schlĂŒssig, wenn auch nicht besonders ĂŒberraschend. Die etwas zĂ€he Ermittlungsarbeit, Ira Wittekinds recht unspektakulĂ€res Privatleben und die klischeehaften Figuren, die fĂŒr mein Empfinden zu wenig Tiefe hatten, konnten mich allerdings nicht so recht ĂŒberzeugen.
FĂŒr mich war Mordkapelle ein solider und zuweilen recht unterhaltsamer Kriminalroman zum MitrĂ€tseln, dem es jedoch leider etwas an Spannung und dem nötigen Tiefgang fehlte. Ein netter Krimi fĂŒr Zwischendurch, aber nichts, was im GedĂ€chtnis bliebe.

Cover des Buches Der Tod so kalt (ISBN: 9783421047595)

Bewertung zu "Der Tod so kalt" von Luca D'Andrea

Der Tod so kalt
ClaudiasWortweltenvor 7 Jahren
Ein abwechslungsreicher und hochspannender Thriller vor der imposanten Kulisse der Dolomiten

Inhalt:

Der New Yorker Dokumentarfilmer Jeremiah Salinger fĂŒhlt sich nach seinem letzten erfolgreichen Filmprojekt vollkommen ausgebrannt und leer. Er beschließt, sich eine kleine Auszeit zu gönnen und mit seiner Frau Annelise und seiner kleinen Tochter Clara ein paar Monate in Siebenhoch zu verbringen, dem Heimatdorf seiner Frau in den SĂŒdtiroler Dolomiten. In dem abgelegenen, idyllischen Bergdorf glaubt er, etwas zur Ruhe zu kommen und viel Zeit mit seiner Familie verbringen zu können.

WĂ€hrend er eines Tages fasziniert den Hubschrauber der Bergrettung Dolomiten beobachtet, kommt ihm jedoch die Idee, einen Film ĂŒber die Arbeit des Bergrettungsteams zu drehen. Als er die Crew bei einem Einsatz auf den Ortler begleitet, ereignet sich bei den Dreharbeiten ein schrecklicher Unfall, den Salinger als Einziger schwerverletzt in einer Gletscherspalte ĂŒberlebt. Seitdem leidet er unter einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung, hat Panikattacken, AlbtrĂ€ume und Wahnvorstellungen, in denen er immer wieder die Stimme der Bestie zu hören glaubt, die er zum ersten Mal in der Gletscherspalte am Ortler vernommen hatte. Er muss seiner Frau versprechen, sich nun zu schonen und mindestens ein Jahr nicht zu arbeiten.
Doch dann erfĂ€hrt er zufĂ€llig, dass sich 1985 in der nahegelegenen Bletterbach-Schlucht ein furchtbares Verbrechen zugetragen hat, bei dem drei junge Einheimische bestialisch ermordet wurden. Salingers Schwiegervater und drei weitere MĂ€nner aus dem Dorf hatten die grausam zerstĂŒckelten Leichen gefunden, nachdem die drei jungen Leute nicht von einer Wanderung zurĂŒckgekehrt waren. Obwohl es zahlreiche VerdĂ€chtige gab, konnte der Mörder noch immer nicht gefasst werden. Salinger möchte unbedingt die Wahrheit ĂŒber dieses dreißig Jahre zurĂŒckliegende Massaker herausfinden, aber als er beginnt, Fragen zu stellen, stĂ¶ĂŸt er bei den Dorfbewohnern nur auf eine Mauer des Schweigens. Man gibt ihm unmissverstĂ€ndlich zu verstehen, dass es besser fĂŒr ihn wĂ€re, die Vergangenheit ruhen zu lassen, denn man will nicht, dass ein Fremder seine Nase in eine Angelegenheit steckt, die noch immer wie ein Fluch auf der Dorfgemeinschaft lastet. Aber Salinger schlĂ€gt alle Warnungen und Drohungen in den Wind. Er ist geradezu besessen davon, den Mörder zu finden und sicher, dass er die Stimme der Bestie nur zum Schweigen bringen kann, wenn es ihm gelingt, das Bletterbach-Massaker aufzuklĂ€ren, selbst wenn er sich damit in große Gefahr begibt und riskiert, seine Familie zu verlieren.

Meine persönliche Meinung:

Wenn man an SĂŒdtirol denkt, kommen einem zunĂ€chst wunderschöne Landschaften, die schneebedeckten Gipfel der Alpen und Dolomiten, ein Meer von Weinbergen und ObstgĂ€rten sowie idyllisch gelegene Bergdörfer und blĂŒhende Almen in den Sinn. Ich bin eigentlich kein großer Fan von den Bergen, aber dennoch war ich gerade aufgrund des außergewöhnlichen Settings neugierig auf Der Tod so kalt von Luca D’Andrea, denn hinter dieser Postkartenidylle wĂŒrde man eher einen beschaulichen Heimatroman als einen beklemmenden, zuweilen auch recht gruseligen Thriller vermuten. Die Gegend, in der Luca D’Andrea die Handlung seines Thrillers angesiedelt hat, kenne ich von diversen Urlauben recht gut, denn abgesehen von dem fiktiven Dörfchen Siebenhoch handelt es sich dabei um real existierende Orte. Die Landschaft SĂŒdtirols ist zweifellos wirklich traumhaft schön, aber auf mich wirkten die schroffen Berge auch immer ein wenig bedrohlich.
Und Ă€ußerst bedrohlich ist auch die AtmosphĂ€re in Luca D’Andreas Thriller, nicht nur aufgrund der tĂŒckischen Gefahren, die in den Bergen lauern, sondern auch, weil der Autor die Dolomiten zum Schauplatz eines furchtbaren Verbrechens macht. Die Landschaft spielt in Der Tod so kalt eine sehr große Rolle. D’Andrea stammt selbst aus Bozen, kennt sich in der Gegend also bestens aus, ist auch mit den lokalen BrauchtĂŒmern, Legenden und Mythen vertraut und lĂ€sst diese immer wieder in die Handlung einfließen. Man merkt deutlich, dass der Autor vieles aus eigener Anschauung kennt, aber auch sehr akribisch recherchiert hat. Mir war die Legende vom Reich der Fanes bislang vollkommen unbekannt, und auch wenn ich ungefĂ€hr wusste, was ein Krampus ist, fand ich es sehr interessant, mehr ĂŒber diese Schreckgestalt und das mit ihr verbundene Brauchtum zu erfahren. Auch die Auswirkungen des stetig zunehmenden Tourismus, der zur grĂ¶ĂŸten Einnahmequelle SĂŒdtirols geworden ist, sowie die MentalitĂ€t und die Eigenheiten der etwas verschrobenen SĂŒdtiroler beschreibt der Autor sehr authentisch und zeichnet ein ĂŒberaus ĂŒberzeugendes PortrĂ€t der verschworenen Dorfgemeinschaft des fiktiven Örtchens Siebenhochs.
Es ist fĂŒr einen Fremden nicht ganz einfach, das Vertrauen der Einheimischen zu gewinnen, was Salinger, der Protagonist in D’Andreas Thriller, immer wieder zu spĂŒren bekommt. Obwohl seine Ehefrau eine Einheimische ist, begegnen ihm die Siebenhochler mit unverhohlenem Misstrauen, nicht nur, weil sie ihn als Eindringling empfinden, sondern weil sie ihm auch die Schuld an dem UnglĂŒck am Ortler geben, das Salinger als Einziger ĂŒberlebt hat. Er selbst leidet seit dem Unfall unter einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung, Wahnvorstellungen und Panikattacken, die er zu ĂŒberwinden versucht, indem er geradezu besessen alles daran setzt, das dreißig Jahre zurĂŒckliegende Bletterbach-Massaker aufzuklĂ€ren, bei dem drei junge Einheimische auf bestialische Weise ermordet wurden. Doch die Dorfbewohner wollen nicht, dass sich ein Fremder in ihre Angelegenheiten einmischt. Sie versuchen mit allen Mitteln, Salinger einzuschĂŒchtern und greifen ihn auch tĂ€tlich an, weil er sich von ihren Drohungen nicht beeindrucken lĂ€sst. Auch sein Schwiegervater bittet ihn instĂ€ndig, seine Recherchen einzustellen, und seine Frau droht, ihn zu verlassen, wenn er sich nicht schont. Doch Salinger lĂ€sst sich nicht beirren, denn er ist sicher, dass er die Stimme der Bestie, die er seit dem UnglĂŒck zu hören glaubt, nur zum Schweigen bringen kann, wenn es ihm gelingt, die Wahrheit ĂŒber das Bletterbach-Massaker herauszufinden.
Der Autor hat seinen Protagonisten sehr fein gezeichnet und psychologisch glaubwĂŒrdig ausgearbeitet. Da das ganze Buch aus der Ich-Perspektive Salingers erzĂ€hlt wird, man seine Gedanken, Ängste und GefĂŒhlszustĂ€nde also hautnah miterlebt, konnte ich mich sehr gut in ihn einfĂŒhlen. Er ist keineswegs ein mutiger Held, der ein dreißig Jahre zurĂŒckliegendes Verbrechen aufklĂ€ren möchte, um sich zu profilieren, sondern ein gebrochener Charakter, der sich in eine Idee verrannt hat und dabei fast seinen Verstand verliert. Hin und wieder fiel es mir nicht leicht, Salingers Besessenheit fĂŒr das Bletterbach-Massaker nachzuvollziehen, denn er begibt sich immer wieder in Gefahr, wird massiv bedroht und setzt außerdem auch seine Ehe aufs Spiel. Er liebt seine Familie ĂŒber alles, und nur die Liebe zu seiner kleinen Tochter Clara bringt ihn hin und wieder zur Vernunft, denn er möchte sie auf keinen Fall verlieren. Doch dann gewinnt die Stimme der Bestie, die er seit dem UnglĂŒck am Ortler unaufhörlich zu hören glaubt, wieder die Oberhand. Er weiß, dass er sie nur zum Schweigen bringen kann und zur Ruhe kommen wird, wenn er den Mörder von damals entlarvt und ist stĂ€ndig hin- und hergerissen zwischen seiner Familie und seiner Obsession. Die Momente mit seiner Tochter waren sehr berĂŒhrend, denn das kleine MĂ€dchen gibt ihrem Vater auf geradezu rĂŒhrende Weise immer wieder Halt und Kraft. Nur das BuchstabenzĂ€hlspiel, das die beiden stĂ€ndig spielen und als eine Art Geheimsprache zwischen Vater und Tochter fungiert, ging mir irgendwann fĂŒrchterlich auf die Nerven, weil es doch sehr ĂŒberstrapaziert wird.
Der Tod so kalt ist Ă€ußerst abwechslungsreich komponiert. Das stĂ€ndige Wechselspiel zwischen sehr ruhigen, einfĂŒhlsamen Passagen und ĂŒberaus rasanten, actionreichen Szenen hat mir ausgesprochen gut gefallen. Auch der Gruselfaktor kommt nicht zu kurz. Der Autor versteht es hervorragend, Spannung aufzubauen und sie das ganze Buch hinweg auf einem sehr hohen Level zu halten. WĂ€hrend man Salinger bei seiner gefĂ€hrlichen Suche nach dem Mörder begleitet, wird man immer wieder mit neuen VerdĂ€chtigen konfrontiert und auf falsche FĂ€hrten gelockt. Zwischendurch hatte ich allerdings kurzfristig die BefĂŒrchtung, dass die Geschichte ins Phantastische abdriftet, als der Jaekelopterus rhenaniae, ein vor mehr als zweihundertfĂŒnfzig Millionen Jahren ausgestorbenes Riesenskorpion, des Mordes verdĂ€chtigt wird. GlĂŒcklicherweise waren meine Bedenken unbegrĂŒndet, denn stattdessen gewĂ€hrt der Autor hier sehr interessante Einblicke in die Geologie, PalĂ€ontologie sowie die ökologische Nischentheorie, jedoch ohne in einen wissenschaftlichen Ton zu verfallen. Der wendungsreiche Plot mĂŒndet nach einem fulminanten Showdown schließlich in ein durchaus realistisches, logisches und schlĂŒssiges Ende, das mich sehr ĂŒberrascht hat.
Mir hat Der Tod so kalt ausgesprochen gut gefallen und mich aufgrund der imposanten Kulisse, den ĂŒberzeugenden Charakteren und der abwechslungsreichen und hochspannenden ErzĂ€hlweise restlos begeistert.

Cover des Buches GestÀndnisse (ISBN: 9783570102909)

Bewertung zu "GestÀndnisse" von Kanae Minato

GestÀndnisse
ClaudiasWortweltenvor 7 Jahren
Ein dĂŒsteres Psychodrama um Schuld und SĂŒhne von ungeheurer Sogkraft. Ein grandioser Roman!

Als ich GestĂ€ndnisse von Kanae Minato in der Verlagsvorschau entdeckte, wusste ich nicht, dass das Buch bereits 2010 verfilmt wurde und 2011 auch in den deutschen Kinos lief. An mir ist dieser Film jedenfalls vollkommen vorbeigegangen, aber da ich ohnehin immer erst das Buch lesen möchte, bevor ich mir die Verfilmung anschaue und die deutsche Übersetzung der Buchvorlage erst im MĂ€rz 2017 erschien, war ich ganz froh, diesen Roman nun völlig unvoreingenommen entdecken zu können.
Mich hat GestĂ€ndnisse von Kanae Minato vollkommen ĂŒberrascht, denn was auf dem Klappentext zunĂ€chst nach einem recht gewöhnlichen Roman mit Thrillerelementen und einer nicht gerade besonders neuen Grundidee klang, entpuppte sich als ein außergewöhnlich dĂŒsteres, tiefgrĂŒndiges und verstörendes Psycho- und Sozialdrama und war in jeder Hinsicht nicht nur anders, sondern vor allem viel besser, als ich es erwartet hĂ€tte.
Die ErzĂ€hlung beginnt mit der Rede, die Moriguchi am letzten Schultag vor den Ferien vor ihrer Klasse hĂ€lt. In ihrer Abschiedsrede verkĂŒndet sie, dass sie nach dem Tod ihres Kindes nun beschlossen hat, die Schule zu verlassen und dem Lehrerberuf den RĂŒcken zu kehren, erlĂ€utert aber auch, warum sie ĂŒberhaupt Lehrerin geworden ist. Erst am Ende ihrer Ansprache beschuldigt sie zwei SchĂŒler ihrer Klasse, ihre kleine Tochter ermordet zu haben. Obwohl sie keine Namen nennt, wissen die beiden Betroffenen und auch deren MitschĂŒler sofort, wen Moriguchi fĂŒr den Tod ihres Kindes verantwortlich macht. Schockiert stellt sie fest, wie gelassen und ungerĂŒhrt die beiden TĂ€ter ihren Worten folgen. Doch das Ă€ndert sich, als sie die Bombe platzen lĂ€sst und ganz sachlich und unverblĂŒmt ihren genauen Racheplan offenbart. Sie glaubt nicht an eine angemessene Bestrafung vonseiten der Justiz, aber es geht ihr ohnehin nicht um Gerechtigkeit, sondern um Rache, Vergeltung, echte Reue und Erkenntnis der Schuld. Bereits die ersten Seiten sind Ă€ußerst verstörend, denn Moriguchi ist bei ihrer Ansprache völlig emotionslos, kĂŒhl und nĂŒchtern. Ihre Rache ist erbarmungslos, abgrundtief böse, aber auch eine Art LehrstĂŒck, das jedoch nicht nur darauf abzielt, die Mörder ihrer Tochter zur Besinnung zu bringen und ihre Tat zu bereuen, sondern die beiden Jugendlichen systematisch zu zerstören und zu vernichten – psychisch und auch sozial. Trotz der NĂŒchternheit und KĂ€lte, die in Moriguchis Worten mitschwingen und trotz der Gnadenlosigkeit, mit der sie ihren Rachefeldzug fĂŒhrt, hat mich ihre Ansprache tief berĂŒhrt. Ich konnte erschreckend gut nachvollziehen, was sie empfindet und warum sie auf diese Weise Vergeltung ĂŒben will.
Somit werden also bereits im ersten Kapitel Tat, TĂ€ter und auch Moriguchis RacheplĂ€ne enthĂŒllt. Man könnte also meinen, dass die Geschichte nun vollstĂ€ndig erzĂ€hlt ist, da alles Wichtige schon erwĂ€hnt wurde, aber die HintergrĂŒnde der Tat, die Motivation der Mörder sowie die Folgen, die Moriguchis spezielle RachepĂ€dagogik nach sich zieht, offenbaren sich erst im weiteren Verlauf der ErzĂ€hlung und werden nun aus verschiedenen Perspektiven geschildert.
In den folgenden Kapiteln kommen weitere Beteiligte zu Wort – eine MitschĂŒlerin, eine Mutter sowie die Schwester eines TĂ€ters und auch die beiden Mörder selbst. Mit jedem Perspektivwechsel kommen neue Details an die OberflĂ€che und ergeben sich neue Blickwinkel auf die Tat und auch auf die Auswirkungen von Moriguchis Rache. Dies fĂŒhrt natĂŒrlich zu Wiederholungen, denn dieselben Geschehnisse werden dabei immer wieder aufs Neue, aber eben aus einer anderen Perspektive erzĂ€hlt. Dennoch ist der Roman niemals langweilig, denn gerade die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Ereignisse und ihre HintergrĂŒnde machen den eigentlichen Reiz dieser ErzĂ€hlung aus. Mit jeder weiteren ErzĂ€hlperspektive und mit jeder neuen Version der Geschichte verschwimmen auch die Grenzen zwischen TĂ€ter und Opfer immer mehr, denn obwohl die Tat der beiden jugendlichen Mörder verabscheuungswĂŒrdig bleibt und durch nichts gerechtfertigt wird, sind auch sie Opfer. Sie sind nicht nur Opfer von Moriguchis Rache, die sie zunehmend vernichtet, sondern vor allem Opfer einer außerordentlich leistungsorientierten Gesellschaft. Dennoch war es mir nicht möglich, Mitleid fĂŒr die beiden Jugendlichen zu empfinden, denn fĂŒr ihr Verhalten und ihr abscheuliches Verbrechen gibt es keine Entschuldigung, höchstens eine ErklĂ€rung.
Die Autorin gewĂ€hrt in GestĂ€ndnisse sehr tiefe Einblicke in das japanische Schulsystem und die japanische Leistungsgesellschaft, in der das Streben nach Erfolg und ein geradezu ĂŒbermĂ€chtiger Druck, stets der Beste sein zu mĂŒssen, recht bizarre Formen annehmen und zu Vereinsamung, Narzissmus, Aggressionen, psychischen Störungen und zerrĂŒtteten FamiliengefĂŒgen fĂŒhrt. So beschreibt Kanae Minato in ihrem Roman auch sehr prĂ€zise das PhĂ€nomen des „Hikikomori“. Bei diesem Begriff handelt es sich um den japanischen Fachausdruck fĂŒr eine besondere Form der Sozialphobie. Er bezieht sich auf Personen, ĂŒberwiegend auf Jugendliche, die sich vollkommen von der Gesellschaft zurĂŒckziehen, das Haus ihrer Eltern nicht mehr verlassen und aus Angst, sich immer mit anderen messen zu mĂŒssen, dabei zu versagen und dem Druck nicht gewachsen zu sein, keine sozialen Kontakte pflegen und sich vollstĂ€ndig isolieren.
Die Einblicke in diese, fĂŒr mich bislang vollkommen fremde Kultur haben mich ĂŒberaus fasziniert und auch sehr nachdenklich gestimmt. Sicherlich ist vieles, was in diesem Roman thematisiert wird, dem japanischen Schulsystem und der extrem leistungs- und fortschrittsorientierten japanischen Gesellschaft geschuldet, aber ich wĂŒrde trotzdem nicht so weit gehen, zu behaupten, dass die angesprochenen Probleme nur in Japan und nicht auch bei uns zu finden sind. Das Hauen und Stechen an Schulen, Hochschulen und auch im Beruf, Mobbingattacken, mit denen die Konkurrenz ausgeschaltet werden soll, der enorme Leistungsdruck angesichts stetig wachsender Anforderungen und die teilweise geradezu krankhafte Sucht nach Anerkennung und Erfolg sind auch in unserer Gesellschaft tagtĂ€glich zu sehen und nehmen mitunter beĂ€ngstigende Ausmaße an.
Mich hat dieser Roman sehr erschĂŒttert und tief bewegt. Neben dem raffinierten Spiel mit unterschiedlichen Perspektiven und den faszinierenden Einsichten in die japanische Gesellschaft, hat mich vor allem auch der nĂŒchterne, lakonische ErzĂ€hlstil der Autorin begeistert, denn gerade dadurch gewinnt das ErzĂ€hlte eine ungeheure IntensitĂ€t. Völlig frei von SentimentalitĂ€t und ohne effekthascherische und reißerische Töne, gewĂ€hrt Kanae Minato Einblicke in die tiefsten und bösesten AbgrĂŒnde der menschlichen Seele.
GestĂ€ndnisse ist ein Ă€ußerst dĂŒsterer Roman, der wenig Optimistisches aufweist und auch mit keinem versöhnlichen Ende aufwarten kann. Auf die melancholisch-deprimierende Grundstimmung muss man sich ebenso einlassen können wie auf die fremde Kultur. Mich hat GestĂ€ndnisse von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt und vollkommen in seinen Bann gezogen. Zweifellos hat dieses großartige Buch jetzt schon die besten Aussichten, eines meiner Jahreshighlights zu werden. Ein grandioser Roman um Schuld und SĂŒhne, Rache und Vergeltung von ungeheurer Sogkraft!

Über mich

  • weiblich

Lieblingsgenres

Krimis und Thriller, Historische Romane, Literatur, Unterhaltung

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