thomas_manegold
- Mitglied seit 22.04.2011
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Rezensionen und Bewertungen
Bewertung zu "Die unterschätzte Kunst des Scheiterns und weitere Mysterien im Leben von Menschen und anderen Kleintieren" von Marion Alexa Müller
Bewertung zu "KALION. Die dunkle Wunde" von Aleš Pickar
Bewertung zu "Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares" von Fernando Pessoa
Bewertung zu "Komm, ich erzähl dir eine Geschichte" von Jorge Bucay
Jorge Bucays Geschichtensammlung ist einfach umwerfend schön. Entwaffnend direkt werden beim Hören dieser drei CDs Lebensweisheiten zu praktikablen Lebenshilfen. Wer hätte das gedacht. Ausgerechnet ein Psychiater könnte also die Psychiater arbeitslos machen...
Doch es gibt viele Dinge, die uns den Weg des Glücks verstellen, uns die Weisheit und die schönen Momente des Lebens versagen wollen. In vorliegendem Fall sind das ein phänomenal grausiges Cover in Rot und Gold und ein nichtssagender Titel. Links unten steht ein Logo, das die Vermutung nahelegt, die herausgebende Instanz habe dafür sogar Geld gezahlt. Vielleicht ist das ja auch eine Art Herausforderung, positiv zu denken, denn jene gestalterische Totalentgleisung macht dem Heer der unterbezahlten Kreativlinge Mut, vielleicht doch mal für Printmediengestaltung Geld zu bekommen...
Dahinter verbirgt sich dann allerdings eine wunderbare Welt aus Fabeln, Weisheiten und Gleichnissen. Jorge Bucay bettet diese in eine Rahmenhandlung, in der er von sich in der dritten Person spricht. Seine Selbsironie ist dabei beispielhaft, denn er weiß offensichtlich sehr genau, wie er bei den anderen rüberkommt. Kein Wunder, denn Jorge oder "der Dicke" ist Psychiater, im Buch wie im richtigen Leben. Sein Patient, der "Ich" Erzähler Demian ist zuweilen betrübt und orientierungslos und begab sich deshalb in die Obhut jenes Therapeuten, der ihn eben nicht auf der Couch versauern lässt, sondern für jedes Problem eine Geschichte parat zu haben scheint.
Seinen Mate Tee schlürfend erzählt er vom Elefanten, der sich als großes starkes Tier jene Dinge nicht mehr zutraut, an dem er als kleines Wesen scheiterte, redet von der Veränglichkeit und von der Kraft der Träume, von menschlichen Schwächen und Eitelkeiten, die uns behindern, von Lastern und Tugenden und davon, dass wir uns oftmals selbst im Wege stehen.
Viele der Geschichten hat man so oder in anderer Form irgendwo schonmal gehört. Es sind meistens Zen-Weisheiten, Sufi-Geschichten, Gleichnisse oder nacherzählte Märchen und Sagen aus aller Welt. Neu ist dabei ihre komprimierte Art und jene Verknüpfung mit uns allen betreffenden Alltags- und Daseinsproblemen durch die Dialoge zwischen Demian und "dem Dicken", sodass man immer wieder schmunzeln muss und sich die zumeist unter 10 Minuten dauernden Episoden immer und immer wieder anhören kann. In ihnen erkennt Demian, wie eben auch der Zuhörer, oftmals sich selbst, seine eigenen Verhaltensweisen und seine hausgemachten Probleme wieder.
Bucays Geschichten helfen seinem Patienten und uns zu einem besseren Selbstverständnis. Mehr noch, als nur Neurosen heilend, vermitteln sie oftmals fundamentale Weisheiten, auch über den uns nicht unmittelbar betreffenden Lauf der Welt. Die "Triebe des Ombu Baums" veranschaulicht beispielsweise wunderbar den Wahnsinn unserer Schubladenmentalität und des alles durchdringenden Parteilichkeitsdenkens.
Am besten funktionieren die Geschichten ebenso häppchenweise, wie sie von Jorge erzählt werden. Wie Demian eben eine Geschichte pro "Sitzung" erfährt, sollte man sich vielleicht eine Geschichte pro Tag anhören, vielleicht als Ritual beim morgendlichen Kaffee oder beim abendlichen (Mate)-Tee, was eine viel nachhaltigere Wirkung auf unser Leben verspricht, denn vieles steht eben auch zwischen den Zeilen, offenbart sich nur unterbewusst, nach mehrmaligem Hören oder indirekt.
Zudem kommt hier einmal mehr der glückliche Umstand hinzu, dass hier Texte und Stimme perfekt zueinander passen und Edgar M. Böhlkes Vortragsweise auch die Speisekarte der Pommesbude an der Ecke zu einem literarischen Ereignis machen würde ...
Bewertung zu "Der Fall Schelling, m. Audio-CD" von Frank Klötgen
Frank Klötgen ist in erster Linie bekannt als Lyriker und Poet. Seine Gedichte sind phänomenal und seine Darbietung derselben einfach unerreicht. Ebenso sprachverliebt ist aber auch seine Kurzprosa. Beides sprengt den sonst üblichen Rahmen von Slams und Literaturbühnen. Nach der Textsammlung "Will kacheln" kamen nun gleich zwei Hardcoverbücher auf den Markt. Neben dem selbst verlegten Gedichtband "Mehr Kacheln", der bis dato nur beim Autor selbst zu haben ist, erschien mit "Der Fall Schelling" ein Roman bei Voland & Quist. Das Buch enthält, wie die meisten Bücher des Verlags, auch eine CD.
Die Geschichte ist so etwas wie ein Arztroman aus der Feder Franz Kafkas. Schelling ist ein zu Lebzeiten mäßig bekannter Autor, der nach 17 Jahren Koma wiederbelebt wird und, im Schatten von Intrigen, posthum erlangtem Ruhm und sozialen Verstrickungen, wieder ins Leben zurückfinden soll.
Hierbei bedient sich der Autor verschiedener Erzählperspektiven. Aus der Sicht des Patienten Schelling schreibt er aus der Ich-Perspektive und die Außenwelt wird ebenso konsequent von Außen betrachtet. Mitunter verpasst man zwar einen der vielen, manchmal im Schriftbild gänzlich unkenntlichen Sprünge, was jedoch ganz gut zur konfusen Wahrnehmung des Patienten passt. Einmal daran gewöhnt, kann man der Story gut folgen und erlebt eine meisterhafte Verkettung von Psychogrammen. Da ist die überforderte Tochter, die, inzwischen erwachsen, mit vergessenen Kindheitstraumata konfrontiert wird oder Böger, Leiter des Projekts, der sich an der Beziehungskrise mit seiner Frau und am Machtkampf mit seinem Kollegen aufreibt... In dem Maße, wie Schelling erwacht, saugt der Plot auch den Leser in die obskure Handlung, wird der Autor (Schelling, nicht Klötgen) zum Spielball seiner Umwelt...
Und diese Welt kommt, Fluch oder Segen, gänzlich ohne Helden aus. Das ist traurig, aber inmitten der mysteriösen Handlung eben ein Stück allerlebte Realität. Kein Dr. House brilliert, kein geschundener Patient, der sich theatralisch die Schläuche bedeutungsschwanger aus dem Körper reißt und joggen geht...
Das Wort "unkonventionell" beschreibt Klötgens Roman wohl am besten, zumal er an allen klischeebedingten Erwartungen vorbei geht. "Der Fall Schelling" ist kein Roman eines Poetry Slammers. Virtuoses Bellen, bösartigen Humor, plakative Action wird man also nicht darin finden. Und dennoch geht er mit den doktrinären Mechanismen der Literatur nicht gerade zimperlich um, was sich nicht zuletzt im kreativen Streit zwischen Autor, Lektor und Verlag um einige Änderungen spiegelt, dem wir einen "Directors Cut" in Form eines separaten Heftchens zu verdanken haben. Dieses liegt dem Roman bei, sofern man ihn beim Autor direkt bestellt.
Was am Ende wahr und was Traum ist, bleibt dem Leser überlassen. Das mag unbefriedigend sein, doch ist ein versöhnlicher Umgang mit so einem Werk durchaus vergleichbar mit dem Wechsel von Instant-Kaffee zu ganzen Kaffeebohnen. Frank Klötgen bleibt in diesem Roman am Schwebezustand zwischen Leben und Tod, Traum und Wachzustand kleben. Irgendwie. Wie bei David Lynch, der es eigentlich verfilmen könnte - und dem überstrapazierten Franz K., ist das letztendlich Geschmackssache.
Strange, but beautiful.
Der Skandalautor avanciert zum dauerhaft präsenten Schriftsteller. Dieser zweite Roman ist noch gar nicht so lange auf dem Markt und doch buhlt bereits der dritte Teil der Kurzgeschichtenserie "Ich hab die Unschuld kotzen sehen" umd die Gunst der Fans, während Roman Nummer drei noch für dieses Jahr bereits angekündigt ist. Was alle gute Autoren eint, ist Kontinuität - im Schreiben wie in der Präsentation. Und Dirk Bernemann zelebriert beides ausgiebig. Regelmäßige Lesereisen halten ihn nicht davon ab, Seite für Seite hochwertige Individualität abzuliefern. So auch mit "Vogelstimmen"
Einziges Manko ist, dass lediglich die letzten Sätze des Werkes den Klappentext bilden. Die Quintessenz als Einstieg belastet ein Werk. Zwar ist bei "Vogelstimmen" das Ende irgendwie zweitrangig, aber das Buch würde mehr Wirkung erzielen, wenn man als Leser nicht wüsste, wie es (nicht) ausgeht... "Vogelstimmen" ist diesbezüglich zwar nicht pädagogisch, aber eben wertvoll.
Erzählt wird die Geschichte eines einsamen jungen Mannes, der im Angesicht seines still vor sich hinblubbernden Lebens die Leiden seiner Umwelt in sich aufsaugt, um die eigenen zu kompensieren. Er sieht sich mit einem öden Job als Buchhändler konfrontiert und mit der alles überschattenden, fortschreitenden Demenz seiner Mutter, die ihn auf Raten verlässt. Auf dieser wunden Projektionsfläche tummeln sich fast schon lyrische Erinnerungen und Episoden, die ihm die Tristess, Gefühlsarmut und die Traurigkeit des eigenen Lebens offenbaren. Unser Held tritt aus dieser depressiven Stimmung den Weg eines Lernprozesses an, der den Lesenden einnimmt und ihm sehr subtil in die Erkenntnis schubst, dass jenes Leben, das da vor ihm ausgebreitet wird, auch das eigene sein kann. Nach dem Genuss von "Vogelstimmen" sieht man die Welt mit anderen Augen, kann vielleicht mit der eigenen Traurigkeit umgehen oder sie zulassen - und genau das ist eine Qualität, die Kritiker und Fans dem erfolgreichsten unbekannten Autor Deutschlands niemals zugetraut hätten. Somit ist das bislang ruhigste und in Punkto Gewalt wohl unspektakulärste Buch Bernemanns zugleich sein bestes und ausgereiftestes Werk, ist das traurigste Gedankenkonstrukt paradoxerweise auch das gewaltigste und hoffnungsvollste, was Bernemann bislang veröffentlicht hat.
Über mich
- männlich
- 08.07.1968
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