Bewertung zu "Tinte und Knochen – Die Magische Bibliothek" von Rachel Caine
Fazit
Obwohl mich der ernste Ton und die Gewalt ein wenig geschockt haben, will ich dringend wissen wie es weiter geht. Zwar konnte ich mit dem Hauptcharakter Jess nicht richtig warm werden und andere Charaktere sind (noch) nicht vertrauenswürdig genug, um für mich ein Anker zu sein. Aber die überraschende Tiefe, die gut beschriebene Interaktion der Charaktere und viele Geheimnisse verlangen von mir, dass ich nicht aufgebe. Der Catcher sind aber wohl die Themen für mich. Die Rolle, die Bücher und Wissen in dieser Welt spielen, ein paar sehr machthungriger Menschen, bei denen ich noch nicht weiß, warum sie so handeln, und unterdrückte Magier, die auf Befreiung hoffen. Damit bekommt man mich fast immer und es muss schon sehr viel schief gehen, damit es keine 5 Sterne von mir gibt. Also: hier sind sie.
Für wen geeignet, für wen nicht
Das Buch ist keine entspannte oder lustige Geschichte wie der Untertitel „Die geheime Bibliothek“ andeutet. Ich habe gleich Assoziationen zu „Die Unsichtbare Bibliothek“ bekommen, fand diese andere Reihe aber trotz der deutlich älteren Hauptperson viel entspannter. Das lag für mich vor allem an der Gewalt in diesem Buch. Der Gewaltpegel ist zwischen den beiden Reihen vergleichbar, aber die Art und Weise wie Gewalt bewertet wird, ist eine andere.
Anzügliche Szenen kommen nicht vor, das höchste der Gefühle sind Küsse, aber die moralischen Dilematta fand ich bedeutend schlimmer. Schon relativ zu Beginn ist Jess indirekt für den Tod von Unbeteiligten verantwortlich. Die Tode nehmen die Jess zwar mit, aber es ist ein Aspekt, den Jess als unvermeidbaren Teil seines Lebens akzeptiert und der auch vor bekannteren Charakteren nicht halt macht. Zwar werden nicht absichtlich die grausamen Taten Einzelner oder das Leid bekannter Charaktere gezeigt, sondern „nur“ systemische Grausamkeiten an Fremden, wie die Folgen eines Krieges. Diese fand ich auf Grund des ernsten Tons und der gewählten Worte aber schon schlimm genug.
Gewalt wird hier also keinesfalls verherrlicht, aber es werden gebrochene Menschen gezeigt, die leiden, ihre Hoffnung verloren haben und nicht immer ein Happy End erfahren. Von solcher Hoffnungslosigkeit zu lesen ist zu gewissen Zeiten für mich zu viel, das muss also jeder selbst wissen.
Das unterscheidet meiner Meinung nach dieses Buch auch von der oben genannten Reihe um Irene Winters: dort wird alles ein wenig Unernst geschildert. Irene rennt mehr oder weniger überall unbeschadet durch und egal was passiert, irgendwie wird schon alles gut, selbst wenn es anders läuft als erhofft. Das ist hier anders. In schlechter Stimmung hätte ich dieses Buch also nicht lesen dürfen.
Also vielleicht für moralisch ausgereifte Jugendliche oder jung gebliebene Erwachsene, die gerne Urban Fantasy lesen, in der es auch mal ein wenig heftiger zugehen darf? Ja, das trifft für mich ganz gut den Punkt. Denn schlecht fand ich es ja nicht. Man sollte nur gute Laune haben.
Ausführliche Rezension (da sehr ausführlich besser erst nach der Lektüre lesen auch wenn ich nur Andeutungen mache und für die Handlung nicht relevante Fakten verrate)
Geschichte/Handlung
Gleich der Einstieg hat mir gut gefallen. Ein actionreiches Rennen durch verwinkelte Londoner Gassen, bei dem ein wertvolles Buch vor Gardisten und Automaten beschützt werden muss. Schon dort bekommt man erste Hinweise auf die Gesellschaft in dieser alternativen Realität, in der der Wert einiger Originalwerke über dem eines Menschenlebens steht. Und mit dem Ende des Rennens wusste ich dann auch, dass „Tinte und Knochen“ nicht so viele übernatürliche Elemente enthält wie ich erwartet hätte, sondern vor allem ein gut durchdachtes „Was-wäre-Wenn-Szenario“ ist, das die menschlichen Abründe untersucht. Nicht im Kleinen, wie es viele Krimis tun, sondern im Großen.
Natürlich werden hier nicht so viele Intrigen gesponnen wie ich es von anderen Reihen kenne, aber für mich ging es bei dem Buch schon hauptsächlich um Vertrauen und Macht. Es war für mich eine positive Überraschung, weil ich mit einem leichten Buch gerechnet habe.
Trotz der angedeuten Intrigen ist dies aber kein verkopftes Buch. Unsere Hauptperson Jess ist ein Mensch der Aktion und das merkt man auch. Dadurch rennt er auch mal in offensichtlich vermeidbare Situationen, mit denen die Autorin mich aber versöhnen konnte. Einmal weil Jess trotzdem nicht als einfältig dargestellt wird, sondern seine ganz eigenen Talente entwickelt hat, die gerade auch aus seinen Schwächen entstanden sind. Und auf der anderen Seite, weil der Werdegang von Jess in den ersten Kapiteln gut geschildert wird und ich seine Handlungen so halbwegs nachvollziehen konnte.
Die Autorin hat mich auch immer wieder mit Informationsschnipseln über die Welt des Romans versorgt. Alexandria ist in dieser Geschichtsschreibung der große Gewinner, während Österreich gar nicht mehr existiert. Auch für unsere Geschichtsschreibung wichtige Personen wie Gutenberg bekommen so eine Geschichte, was „Tinte und Blut“ für mich greifbar gemacht hat.
All diese kleinen Informationsschnipsel ergeben mit den Erfahrungen von Jess zusammen ein relativ großes Bild, das auf viele weitere Seiten aus der Welt der Bibliothek von Alexandria hoffen lässt.
Wobei ich da noch kurz erwähnen kann, dass ich keine großen Ähnlichkeiten zu anderen Geschichten über Bibliothken oder Bücher erkennen konnte. Als Autor ist es ein naheliegendes Thema und es freut mich, wenn es eine Autorin schafft, eine weitere Facette hinzuzufügen.
Charaktere
Die Hauptperson ist hier Jess, der zu Beginn eingeführt wird und die ganze Zeit den Erzähler darstellt. Zwischen den einzelnen Kapiteln werden jedoch Akten, Nachrichten oder andere Textschnipsel von bekannten und unbekannten Charakteren eingestreut, die einen weiteren Blick ermöglichen. Dies fand ich gut umgesetzt, gerade weil man so auch mal andere Charaktere näher kennenlernt.
Trotz der überraschenden Tiefe der Geschichte, fehlte jedoch der entscheidende Schritt zur Begeisterung und wahrscheinlich liegt es an mangelnden Identifikationsfiguren für mich. Außer Jess kann man eigentlich niemandem richtig trauen. Bei vielen kann man sich bereits denken, dass sie keine durch und durch schlechten Personen sind und ich habe sie sogar lieb gewonnen (Thomas zum Beispiel). Auf Grund von Jess´ zu oft verletztem Vertrauen bleibt allerdings immer eine Distanz, die verhindert hat, dass ich das Herz an die Charaktere verloren habe.
Trotzdem hatte ich oft das Gefühl, die Dynamik zwischen den einzelnen Charakteren war das, was ich mir für „The Atlas Paradoxon“ gewünscht hätte. Zwar werden die Charaktere nicht so tief beleuchtet, aber das Spiel zwischen Misstrauen und Vertrauen fand ich mitreißend.
Zu Beginn hatte ich gehofft, ich könnte mit Jess, wenn er schon nicht gerade meinem verkopften Charakter entspricht, zumindest die Liebe zum Lesen teilen. Allerdings kommt er auf Grund des Settings nicht wirklich zum Lesen, sondern scheint eher ein Liebhaber alter Bücher zu sein. Diese Geschichtsträchtigkeit kann bei mir ebenfalls eine Gänsehaut auslösen, aber es fehlte ein offensichtlich sanfter oder mitfühlender Zug an Jess. Natürlich, es wäre ihm teuer zu stehen gekommen, aber es wäre ein möglicher Identifikationspunkt gewesen.
Zum Ausgleich gibt es aber auch eine große Menge an spannenden Charakteren. Spannend sowohl, weil ich ihre Haltung nur vermuten kann wie bei der Obskuri Magnus, als auch, weil ich wissen will, warum sie so geworden sind, wie Santi oder der Artifex.
Ich hoffe anders als vorherige Bücher der Autorin, werden diese hier posthum noch vollständig übersetzt. Sonst muss ich mal wieder aufs Englische zurückgreifen, um zu erfahren, was all die Charakter noch so anstellen.