Bewertung zu "Beschreibung einer Krabbenwanderung" von Karosh Taha
Kramen in den Biographien der Eltern und Raufen mit der eigenen Gegenwart, vor allem aber Sanaas Ausrasten, wenn sie die Wirklichkeit aufbricht und höher hinaus will oder tiefer hinein, kurz: wenn sich das Denken für begrenzte Dauer aus dem Viertel stiehlt. Erst nachdem ich das Buch gelesen habe, sehen die Beine der Krabbe auf dem Cover aus wie die Draufsicht auf Wohnblocks. Dort spielt die Handlung um eine junge Kurdin in Deutschland, die – wie soll ich es formulieren – spürt, dass sie trotz Freiheiten gefangen ist; freilich, ihre Familie macht sich Gedanken über ihre Zukunft, Magie und Heiratspläne bereiten etwas vor, das man einen vorgefertigten Lebensweg nennen könnte, aber ich hatte nie das Gefühl, dass dies eine Zwangsläufigkeit ist, sie kann selbstständig Entscheidungen treffen, von allen Seiten bekommt sie zwar Dinge gesagt, aber sie muss sie bloß anhören, sie muss diesen Stimmen nicht gehorchen, und dennoch: wie bewegt man sich fort mit Wohnblockbeinchen? Die Kluft zwischen fremden Erwartungen und eigenen Sehnsüchten tritt schwindelerregend hervor in Karosh Tahas Roman und in meinen Augen ist das eine der großen Errungenschaften in diesem Roman: Ich will – aber was ist das da, was an mir zerrt, was mich zurückhält, verdammt?
Das Weiterspinnen von Unterhaltungen im Stillen, wenn sie der Ärztin von der Krabbe erzählt, zum Beispiel, oder Adnan von ihrer Unfähigkeit, glücklich zu machen, ist eine raffinierte Form, ehrlich zu sein, denn schlussendlich verschweigt sie nichts, sondern schmettert dem anderen eine gestauchte, ungesüßte Variante der Wahrheit hin. Und: Ein Lächeln, das Knospen aufplatzen lässt, ein Körper so warm wie ein ruhendes Rotkehlchen mit aufgeplusterten Federn, Kemal, der seine kostbaren Tränen in die Hände weint, das sind nur einige von vielen wunderschönen Bildern. Die Vergleiche sind: präzise, einmal beschreibt Karosh Taha die Sanftheit einer bestimmten Körperstelle, sie sagt nicht einfach bloß Haut. Meine Fresse, ist das alles gut geschrieben!
Großartig all die einzelnen Geschichten: zum Beispiel der Knoten im Zopf – und die Episoden der verzweifelten Suche nach den Wurzeln, nach der Ursache des Unglücks: wie sie sich an diese Videokassette klammert. Es hat mich an eine Szene in John Burnsides Buch „Lügen über meinen Vater“ erinnert, als der Protagonist ein Hochzeitsbild seiner Eltern findet: „Dieses Bild fand ich schon immer rätselhaft. Waren das da meine Eltern? Warum haben sie in all der Zeit, in der ich bei ihnen aufwuchs, nie wieder so ausgesehen? Vor allem aber: Hatten sie tatsächlich nicht die geringste Ahnung von dem, was ihnen bevorstand? Wussten sie an ihrem Hochzeitstag wirklich so wenig voneinander?“
Das Buch ist auch mit gehörig Sexualität aufgeladen – allen voran die fleißig masturbierende Schwester Helin -, an vielen Stellen ist es obendrein sehr derb – es wird gefickt, gegrabscht und abgespritzt, und obwohl bei solchen Passagen immer die Gefahr besteht, dass es lächerlich klingt, gelingt Karosh Taha hier glaubhaft zu beschreiben, was da passiert in Sanaa, wie sie das alles wahrnimmt, die Innenperspektive tut sich auf. Aber auch das Außen fängt sie auf poetische Art und Weise ein: „Seine Augen sind immer noch halb offen, seine Atmung rhythmisch, die Lippen friedlich, als würde er den Sex nur träumen.“
Die Rebellion gegen die gefühlte Unfreiheit hat ein Um-sich-schlagen zur Folge, sie wehrt sich mit Hand und Fuß, mit brennendem Haar und erhobenen Scheren: doch entrinnen kann sie dem unfassbaren Spuk nicht.
Ich freue mich darauf, mehr davon zu lesen, denn diese – in schnörkelloser, treffsicherer und schöner Prosa verfasste - Kombination aus aufgebrochener, mit Magie durchstoßener Wirklichkeit, Vernarrtheit für Geschichten und das Eintauchen in die komplexe Psychologie von Figuren und ganzen Familien, das taugt mir unheimlich.